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Return Man: Roman (German Edition)

Return Man: Roman (German Edition)

Titel: Return Man: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: V.M. Zito
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hinunterhoppelte.
    Wu wich noch einen Schritt zurück. Er wollte schon kehrtmachen, diesen Ort verlassen und zu seinem Lager in den Bergen zurückkehren. Die schlurfenden Leichen stellten keine wirkliche Gefahr für ihn dar. In schnellem Lauf konnte er sie innerhalb weniger Minuten abhängen. Doch dann regte sich wieder etwas im Wohnwagen, und er hielt noch einmal inne. Eine dritte Leiche kam zum Vorschein– noch ein Mann – und dahinter eine vierte und eine fünfte. Der Wohnwagen war wie eine Sardinenbüchse vollgepackt, und Wu erinnerte sich plötzlich schlaglichtartig an die beengten Verhältnisse, in denen er als Kind gehaust hatte. Seine vier Brüder und zwei Schwestern, die ineinander verschlungen auf dem rauen Holzfußboden in der Hütte seines Onkels Bao Zhi geschlafen hatten. Wie der Regen nachts auf das rot-weiße Metalldach über ihnen geprasselt war– ein mit Coca-Cola-Logos bedrucktes, grob zugeschnittenes Alublech, das aus einer Materiallieferung für die Abfüllanlage in Sichuan gestohlen worden war.
    Erneut verspürte Wu einen Anflug von Mitgefühl für die toten Camper.
    Die erste Leiche war ihm inzwischen bedenklich nah gekommen– so nah, dass Wu schon ihre Zähne klappern hörte. Der Bauchnabel stach obszön hervor; er wurde durch den Druck der Fäulnisgase in den Eingeweiden herausgepresst. Ungerührt ging Wu zehn Schritte zurück, ohne den Blick vom Anhänger abzuwenden. Die Anzahl der Leichen hatte sich noch einmal erhöht. Nun waren es insgesamt sechzehn.
    Aber er fühlte sich immer noch nicht bedroht. Er vertraute auf seine Fähigkeit, den Toten zu entkommen, solange sie in einer Gruppe zusammenblieben. Wu war nicht wie die amerikanischen Soldaten, mit deren Verfolgung er beauftragt worden war; sie waren schießwütige Narren und ballerten sofort auf jede Leiche, die ihnen über den Weg lief. Am Tag zuvor hatte er beobachtet, wie sie von ihrem Lkw aus grölend und jubelnd Leichen nur so zum Spaß abknallten– wie man damals im Wilden Westen aus fahrenden Zügen die Büffel abgeschossen hatte. Der Anblick hatte ihn abgestoßen. Das war Leichenschändung.
    Und Munitionsvergeudung. Aber das ist eben typisch amerikanisch, hatte Wu sich grimmig gesagt.
    Sämtliche Ressourcen vergeuden, bis schließlich nichts mehr da ist.
    Er hatte sich schon darauf gefreut, nach der Mission in seine Heimat China zurückzukehren. Seit dem letzten Sommer hielt er sich illegal in den Sicheren Staaten auf– als Schläfer-Agent an der Ostküste, der auf weitere Anweisungen aus Peking wartete. Er war klug genug, keine schlafenden Hunde zu wecken, indem er sich bei der Zentrale meldete. In Amerika herrschten chaotische Zustände, und zudem zeichnete sich ein schwerer politischer Konflikt ab; er hatte also angenommen, dass das MSS ihn einsatzbereit in der Nähe des Chaos haben wollte, falls er plötzlich gebraucht wurde. Monatelang hatte er in dieser Ungewissheit gelebt und sich gefragt, wie man ihn wohl einsetzen würde– zur Aufklärung oder für Terroranschläge–, doch zu seinem Verdruss hatte Peking sich in Schweigen gehüllt.
    Also hatte er dort ausgeharrt. Er hatte im ehemaligen Schneiderviertel von Bostons Chinatown eine Unterkunft gesucht und in einer alten Textilfabrik ein Einzimmer-Apartment gemietet. Er hatte zu niemandem Kontakt und lebte völlig zurückgezogen. Morgens trainierte er allein im Boston Sports Club; nachmittags meditierte er in den Bambus- und Felsengärten am Tor von Chinatown, streifte über quirlige Märkte oder schaute sich in anheimelnden Läden um, die vom Duft aromatischer Tees erfüllt waren. Die Inhaber weckten seine Neugierde– er stellte sie sich als Abkömmlinge armer chinesischer Tagelöhner vor, die vor hundert Jahren den Pazifik überquert hatten. Amerika war ihr Traum gewesen. Doch nun war der Traum verflogen, und Wu fragte sich, wie viele Amerikaner chinesischer Abstammung sich insgeheim nach einer Rückkehr ins Heimatland sehnten, das nun einen großen Aufschwung erlebte.
    Der Gedanke stimmte ihn traurig.
    Seine Einreise nach Amerika war geradezu ein Kinderspiel gewesen. Trotz der markigen Sprüche der Neuen Republikaner waren die Außengrenzen der Sicheren Staaten löchrig wie ein Schweizer Käse. Der Grenzschutz hatte andere Prioritäten. Er konzentrierte sich vorrangig auf die Mississippi-Frontlinie und starrte wie gebannt auf die Gefahr, die von den Toten auf der anderen Seite des Flusses ausging. Es bedurfte nur einiger gefälschter Papiere und eines bestochenen

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