Return Man: Roman (German Edition)
Beamten der Behörde für Einwanderung und Einbürgerung, und Kenny Wu wurde auf die Gehaltsliste von Green Solar gesetzt, einem in Boston ansässigen Hersteller von Solarstrommodulen. Green Solar hatte schon vor der Auferstehung im Rahmen eines Joint Venture mit China eine Fotovoltaikanlage in der Mongolei errichtet. Da das MSS inzwischen den Vorstand kontrollierte, war es auch ein Leichtes gewesen, für Wu eine Scheinanstellung in der Niederlassung in Neuengland zu arrangieren.
Er hatte sich allerdings kein einziges Mal bei Green Solar in Boston blicken lassen, und es wurden auch keine Fragen gestellt. Über die Geschäftstätigkeit informierte er sich in der Presse und verfolgte, wie die Staaten eine Energiewende zu vollziehen versuchten. Die Ölversorgung war stark beeinträchtigt, weil Texas unter Quarantäne stand und der Nahe und Mittlere Osten die amerikanische Hegemonie abschüttelten. Wu freute sich über den Niedergang Amerikas und die Seelenqualen, die Verwirrung und Verzweiflung, mit der man den kometenhaften Aufstieg Chinas an die Weltspitze verfolgte. Er hatte die besorgten Mienen der Weißen auf dem historischen Kopfsteinpflaster von Boston geradezu genossen. Wie konnte uns das nur passieren?, schienen sie zu fragen. Meinetwegen anderen Völkern. Anderen Ländern. Aber doch nicht uns.
Eure Zeit ist vorbei, hätte er ihnen sagen mögen. Nun sind wir an der Reihe.
Und im letzten Monat hatte Peking endlich Anweisungen übermittelt. Die Mission war noch viel glorreicher, als Wu erwartet hätte; das Herz schlug ihm höher, nachdem er die Nachricht auf seinem Android-Smartphone entschlüsselt hatte. Zwei Tage später reiste er über New York nach Kanada ein. Selbst hier, im nördlichsten Zipfel der Sicheren Staaten, waren die Grenzen bis auf unbestimmte Zeit für Amerikaner geschlossen; alle nach Norden führenden Straßen waren mit Containern von den Frachthöfen blockiert worden. Die Container von der Größe von Lkw-Anhängern waren mit Betonblöcken beladen und doppelt gestapelt worden. Doch durch eine weitere gut platzierte Bestechung sicherte Wu sich eine Überfahrt auf einem Polizeiboot über den Ausläufer des stillen Eriesees – weit nach Mitternacht, mit dem Flüstern der imposanten Niagarafälle im Hintergrund. Von dort aus marschierte er zunächst in westliche Richtung und dann wieder nach Süden, um in die Evakuierten Staaten einzuwandern. In den Gebirgswäldern südlich von Calgary waren all seine Überlebenstechniken gefordert; er musste einen gewaltigen Hindernisparcours aus steilen Felswänden und endlosen Wäldern überwinden, deren Bewachung die Kanadier für unnötig hielten. Nachdem er die Grenze endlich überwunden hatte, schloss er einen Pontiac kurz und legte mit dem Fahrzeug die restliche Strecke bis nach Arizona zurück. Als schließlich die Superstition Mountains am Horizont emporragten, ließ er das Auto stehen; das laute Motorengeräusch hätte den Feind vielleicht vorgewarnt, wenn er den einsamen Highway in Richtung des GPS -Ziels befuhr.
Hier, am Fuß der Superstitions, hatten die Überlegungen bezüglich der Amerikaner Wu zu dieser Idee inspiriert. Das feindliche Lager befand sich ebenfalls hoch in den Bergen, etwas mehr als anderthalb Kilometer über seinem. Er hatte sie an jenem Morgen bei Sonnenaufgang von seinem Versteck auf dem Kamm aus beobachtet. Fünf Soldaten. Zwei dunkelhäutige Männer und drei weiße, darunter ein muskulöser Mann mit silbernen Bartstoppeln auf den Wangen. Graubart, hatte Wu ihn insgeheim genannt, und er schien auch der Kommandant zu sein. Wu kannte ihre richtigen Namen nicht. Die Namen spielten aber auch keine Rolle. Als er die Gruppe der Amerikaner nach wochenlanger schwieriger Verfolgung endlich ausfindig gemacht hatte– wobei er wegen der mangelhaften Verpflegung fast verhungert wäre und sich zum Schlafen wie ein Wüstenfuchs unter Felsen eingegraben hatte–, war Wu mehr als bereit, diese erste Phase des Auftrags abzuschließen.
Die Amerikaner zu vernichten. Dann würde er sich seinem nächsten Ziel widmen.
Doktor Henry Marco.
» Hey«, sagte Wu zur nächsten Leiche. » Gen wo zou.«
Mir folgen.
4 . 2
Die geröteten, von geschwollenen Äderchen durchzogenen Augen des toten Mannes weiteten sich. Aus einer Entfernung von zwanzig Metern torkelte er auf Wu zu und streckte eine skelettartige Hand aus– das heißt, es war eigentlich gar keine Hand mehr. Ein Daumen und vier zerfetzte Stümpfe– die Finger waren abgebissen worden.
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