Return Man: Roman (German Edition)
zeigten Doktor Henry Marco als einen stattlichen und gepflegten Mann in einem weißen Arztkittel. Sein Blick war klar und intelligent, und er hatte nur aus Höflichkeit ein verhaltenes Lächeln für die Kamera aufgesetzt. Er hatte einen fitten Eindruck gemacht: ein gesunder Geist in einem gesunden Körper. » Gerissen«, hatte im Dossier gestanden, » lernfähig« und mit einem » starken Überlebensinstinkt«.
Davon merkte Wu im Moment allerdings nichts.
Dieser Henry Marco war selbst kaum noch mehr als eine Leiche. Sein Gesicht war mit Blut und Asche verschmiert. Öliger Schweiß lief ihm die Stirn hinunter und zog Furchen durch die Asche, bevor er auf die hohlen Wangen tropfte. Die Rippen stachen an den Seiten hervor. Sein Blick war müde, unfokussiert, und er vermochte sich kaum auf den Beinen zu halten. Dieser Henry Marco war schwach. Er wäre gestorben, wenn Wu ihm nicht geholfen hätte.
Wu runzelte die Stirn. Entweder hatte das MSS sich geirrt, oder der jahrelange Aufenthalt in dieser harten Umgebung hatte Marcos Gesundheit ruiniert, ihn all seiner Kraft und Vitalität beraubt, sodass er nun völlig am Ende war.
Von welchem Nutzen sollte dieser Mann wohl noch für die Mission sein?
Er spielte kurz mit dem Gedanken, dem Amerikaner an Ort und Stelle eine Kugel in den Kopf zu schießen, den Auftrag allein auszuführen und den knochigen Kadaver des Doktors hier liegen zu lassen, damit die Toten ihn abnagen konnten. Doch die Vorstellung, dass die ganzen Anstrengungen umsonst gewesen sein sollten, missfiel ihm– die wochenlange Reise nach Arizona, die großen Risiken, die er eingegangen war, um die AAE -Abteilung auszuschalten und Marco hier in Maricopa mit dem brennenden Lkw abzufangen.
Und, was noch wichtiger war, das MSS hatte ihm eindeutige Befehle erteilt. Bringen Sie Doktor Henry Marco ins Gefängniskrankenhaus Sarsgard– lebendig und mit Gewalt, falls notwendig. Wenn das Primärziel– Roger Ballard– nicht wie angenommen in Sarsgard war, dann wäre vielleicht Marcos Wissen über Ballard entscheidend. Wenn er sich des Doktors schon hier entledigte, früher als geplant, wäre das schwerer Ungehorsam und eine gefährliche Dummheit noch dazu. Falls die Mission aus irgendeinem Grund scheiterte und das MSS davon erfuhr, dass Wu die Anweisungen missachtet hatte…
Er erinnerte sich an Agenten, die er in Peking kennengelernt hatte und die wegen Verrats deaktiviert und verurteilt worden waren. Wie sie auf bloßen Knien auf dem Betonfußboden gekniet hatten. Mit Pistolen, die auf ihren Hinterkopf gerichtet waren.
» Gehen wir«, schrie er Marco frustriert an.
Die Leichen vom Bahnhof hatten den gegenüberliegenden Gehweg erreicht. Es war ein stinkender Mob aus Männern in Hemden mit gestärkten Kragen und Frauen in verkrusteten Blusen. Ein blau uniformierter Fahrkartenverkäufer, dem der Unterkiefer fehlte, drängte sich durch die Menge. Die herunterbaumelnde Zunge krümmte sich wie ein dicker Wurm.
Marco blinzelte wie jemand, der aus einer Trance erwachte. » Mein Jeep«, sagte er im Befehlston. Mit diesem autoritären Auftreten hatte Wu nun gar nicht gerechnet, und als Marco sich umdrehte und loslief, zögerte Wu einen Sekundenbruchteil und nahm eine Neubewertung vor. Also … Vielleicht war das doch der Henry Marco, der im Dossier beschrieben wurde. Wu runzelte die Stirn; er war sich nicht sicher, ob er sich über diese Erkenntnis freuen sollte. Dann bückte er sich, hob den Rucksack auf, den er auf der Straße abgelegt hatte, und rannte dem Amerikaner hinterher.
Der orangefarbene Allrad-Jeep stand an der nächsten Ecke, halb auf dem Gehweg. Mit dem Stoßfänger hatte er einen schwarzen Mülleimer eingedrückt. Der Motor lief noch. Ohne zu zögern, setzte Marco sich auf den Fahrersitz und streckte den Arm aus, um die Beifahrertür zu öffnen; Wu hechtete just in dem Moment, als die Leichen den Jeep erreichten, in den Wagen. Der tote Ticketverkäufer schlug auf die Motorhaube, und seine Zunge schlackerte dabei.
Marco packte das Lenkrad und ließ es mit einem Zischen wieder los. » Scheiße«, sagte er und krümmte die Hände. Die Handflächen waren verbrannt und blutig und sahen klebrig aus. » Das tut weh.«
» Ich kann auch fahren«, sagte Wu. Sein Ton war sachlich, nicht etwa mitfühlend.
» Nein«, sagte Marco. » Sie sind der Bordschütze.«
Wu runzelte verständnislos die Stirn. Bordschütze?
» Beifahrer«, sagte Marco, und Wu ärgerte sich darüber, dass der Amerikaner seine Gedanken so
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