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Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit

Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit

Titel: Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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ein weiteres halbes Dutzend Räume durchquert hatten und uns ausruhten, damit die Shunts die überschüssigen Ermüdungsstoffe absaugen konnten, die nach solchen Anstrengungen zurückblieben.
    Die mathematischen Probleme waren inzwischen so obskur, dass ich sie kaum noch beschreiben, geschweige denn, mich zu einer Lösung vortasten konnte. Folglich blieb das Denken hauptsächlich Celestine überlassen, aber die emotionale Belastung spürten wir alle, und sie zehrte nicht weniger an unseren Kräften. Während der Ruhepause war ich eine Stunde lang am Eindämmern, doch dann kehrte die unnatürliche Wachheit zurück wie eine fahle, kalte Dämmerung. Der Zustand war von einer klinischen Sterilität -man fühlte sich darin nicht völlig normal –, aber er befähigte uns zu tun, wozu wir hier waren, und nur darauf kam es an.
    Wir setzten unseren Weg fort und passierten den siebzigsten Raum – damit waren wir fünfzehn Räume weiter als jemals zuvor. Wir befanden uns mindestens sechzig Meter über dem Eingang, und eine Weile sah es so aus, als hätten wir den Rhythmus gefunden, der uns entsprach. Celestine hatte schon lange nicht mehr mit ihrer Antwort gezögert, auch wenn es mehrere Stunden dauerte, bis sie die Lösung erarbeitet hatte. Es war, als hätte sie sich in die angemessene Denkweise hineingefunden, und keine der Aufgaben käme ihr noch wirklich fremd vor. Während wir auf diese Weise Raum um Raum durchquerten, beschlich uns ein Optimismus, der gefährlich werden konnte.
    Er war nicht berechtigt.
    Im einundsiebzigsten Raum stellte der Turm eine neue Regel auf. Celestine verbrachte wie üblich mindestens zwanzig Minuten damit, das Problem zu studieren. Sie fuhr mit den Fingern über die flach eingeritzten Zeichen auf dem Türrahmen und artikulierte mit lautlosen Lippenbewegungen verschiedene Möglichkeiten.
    Childe beobachtete sie mit einer Aufmerksamkeit, wie er sie bisher noch nicht an den Tag gelegt hatte.
    »Irgendwelche Ideen?«, fragte er und schaute ihr über die Schulter.
    »Bedrängen Sie mich nicht, Childe. Ich muss nachdenken.«
    »Ich weiß, ich weiß. Aber geht das nicht auch ein klein wenig schneller?«
    Celestine wandte sich zu ihm um. »Warum? Stehen wir auf einmal unter Zeitdruck?«
    »Ich bin nur ein wenig beunruhigt, weil wir so lange brauchen, das ist alles.« Er strich über die Wölbung an seinem Unterarm. »Diese Shunts arbeiten nicht perfekt, und …«
    »Aber das ist doch nicht alles?«
    »Keine Sorge. Konzentrieren Sie sich nur auf das Problem.«
    Doch diesmal begann die Strafaktion, bevor wir eine Lösung erarbeitet hatten.
    Verglichen mit der grausamen Verstümmelung, die unseren letzten Sturm auf den Gipfel beendet hatte, war sie vermutlich einigermaßen milde. Eher eine eindringliche Aufforderung, eine Wahl zu treffen; der Knall einer Peitsche, nicht das Sausen einer Guillotine.
    Etwas schoss aus der Wand und fiel zu Boden.
    Es sah aus wie eine Metallkugel von der Größe einer Murmel. Mehrere Sekunden lang geschah gar nichts. Wir starrten das Ding nur an. Gleich würde etwas Unangenehmes passieren, wir wussten nur noch nicht, was.
    Die Kugel begann zu vibrieren und schnellte sich -ohne jede Verformung – kniehoch vom Boden weg.
    Sie fiel zurück, schlug auf und sprang etwas höher.
    »Celestine«, mahnte Childe. »Ich rate dringend, zu einer Entscheidung zu kommen …«
    Zu Tode erschrocken, wandte sich Celestine wieder dem Rätsel auf dem Türrahmen zu. Die Kugel hüpfte weiter auf und ab – jedes Mal ein klein wenig höher.
    »Das gefällt mir nicht«, sagte Hirz.
    »Ich bin auch nicht gerade glücklich darüber«, erklärte Childe. Die Kugel hatte die Decke erreicht, fiel zurück und landete etwas neben der Stelle, wo der Tanz begonnen hatte. Diesmal war die Wucht des Aufpralls so groß, dass sie wieder bis an die Decke geschleudert wurde, dann schoss sie quer durch den Raum, prallte von einer der Wände schräg ab und krachte gegen Trintignants Metallbein. Von dort zurückgeworfen, schlug sie zweimal gegen die Wände -wobei sie jedes Mal schneller wurde – und traf mich in die Brust. Mir entwich wie bei einem harten Boxhieb die Luft aus den Lungen.
    Aufstöhnend ging ich zu Boden.
    Die kleine Kugel setzte ihren Weg fort. Nichts schien ihre Geschwindigkeit merklich bremsen zu können, sie wurde sogar immer noch schneller. Wie ein Weberschiffchen flitzte sie auf stets neuen Bahnen kreuz und quer durch den Raum. Gelegentlich stand ihr einer von uns im Weg. Ich hörte Schreie,

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