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Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit

Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit

Titel: Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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war, an dem es etwas mit ihnen anfangen konnte?
    Und dann schluckte es sie.
    War es möglich, dass der Blutturm ebenso wenig einem höheren Zweck diente wie eine Fliegenfalle?
    Ich fand keine Antwort. Und ich wollte nicht auf Golgatha bleiben, um über solche Fragen nachzugrübeln. Ich traute mir nicht zu, mich von dem Turm fernzuhalten. Ich spürte seinen animalischen Sog noch immer.
    So reisten wir ab.
    »Versprich mir etwas«, sagte Celestine.
    »Was?«
    »Was immer auch geschieht, wenn wir nach Hause kommen – was immer aus der Stadt geworden sein mag –, du wirst nicht zu diesem Turm zurückkehren.«
    »Ich kehre nicht zurück«, sagte ich. »Mein Ehrenwort darauf. Wenn du willst, lasse ich sogar die Erinnerungen daran unterdrücken, damit er mich nicht mehr in meinen Träumen verfolgt.«
    »Warum nicht«, sagte sie. »Das hast du schließlich schon einmal getan.«
    Doch als wir in Chasm City eintrafen, stellten wir fest, dass Childe nicht gelogen hatte. Alles war anders, aber nicht besser geworden. Eine Krankheit, Schmelzseuche genannt, hatte unsere Stadt in ein verpestetes, technisch rückständiges, finsteres Mittelalter zurückgeworfen. Das viele Geld, das Childes Expedition uns eingebracht hatte, war nichts mehr wert, und der Einfluss meiner Familie, schon vor der Krise eher gering, war noch weiter geschrumpft.
    In besseren Zeiten hätte sich Trintignants Arbeit vermutlich rückgängig machen lassen. Es wäre nicht einfach geworden, aber es gab immer Fachleute, die eine solche Herausforderung suchten. Wahrscheinlich hätte ich mich gegen die Angebote mehrerer rivalisierender Cybernetiker zur Wehr setzen müssen, die mit einem so anspruchsvollen Auftrag zu Ruhm und Ehre gelangen wollten. Doch heute war alles anders. Die einfachsten Operationen waren schwierig oder unbezahlbar geworden. Nur eine Hand voll Spezialisten verfügten noch über die Mittel, um sich überhaupt an eine solche Aufgabe wagen zu können, und sie konnten verlangen, was immer sie wollten.
    Selbst Celestine, die wohlhabender gewesen war als ich, konnte sich nur eine Reparatur leisten, keine Wiederherstellung. Das trieb uns fast in den Ruin.
    Dennoch nahm sie mich auf.
    Manch einer, der das groteske Wesen steifbeinig wie einen mechanischen, diamanthäutigen Hund neben ihr hertrotten sah, mochte mich nur für ein besonders ausgefallenes Haustier halten. Andere ahnten, dass hinter unserer Beziehung mehr steckte – hin und wieder raunte sie mir eine Bemerkung zu, oder es sah so aus, als wäre ich es, der sie führte –, und musterten mich neugierig, aber nur so lange, bis ich die grellroten Lichter meiner optischen Sensoren auf ihre Augen richtete.
    Dann wandten sie unweigerlich den Blick ab.
    So ging es lange Zeit – bis die Träume übermächtig wurden.
    Deshalb schleiche ich jetzt durch die Nacht. Celestine weiß nicht, dass ich unsere Wohnung verlassen habe. Draußen auf den finsteren, halb überfluteten Straßen treiben kriminelle Banden ihr Unwesen. Den Mulch nennt man diesen Teil von Chasm City, das einzige Viertel, das so billig ist, dass wir eine Wohnung bezahlen können. Natürlich hätten wir uns eine bessere – eine sehr viel bessere Gegend leisten können, hätte ich nicht Geld beiseite legen müssen für diesen Tag. Doch davon weiß Celestine nichts.
    Der Mulch ist nicht mehr so schlimm, wie er einmal war, dennoch hätte ihn mein früheres Ich als Elendsviertel betrachtet. Auch jetzt bin ich unwillkürlich misstrauisch und beobachte mit meinen aufgerüsteten Augen die plumpen Messer und Armbrüste, die die Bandenmitglieder so stolz vor sich hertragen. Nicht alle Wesen, die diese Nacht unsicher machen, sind im eigentlichen Sinne menschlich. Manche haben Kiemen und können im Freien kaum atmen. Und andere haben Ähnlichkeit mit Schweinen – und sie sind die Schlimmsten von allen.
    Aber ich fürchte sie nicht.
    Ich husche von Schatten zu Schatten und verwirre sie mit meiner schmalen Hundegestalt. Wenn ich mich durch die Lücken in eingestürzten Gebäuden zwänge, entkomme ich mühelos all jenen, die töricht genug sind, mich zu verfolgen. Hin und wieder bleibe ich sogar stehen, mache einen Buckel und sehe ihnen entgegen.
    Ich durchbohre sie mit meinem roten Blick.
    Dann setze ich meinen Weg fort.
    Irgendwann erreiche ich den vereinbarten Treffpunkt. Zunächst scheint alles verlassen – keine Banden weit und breit –, doch dann tritt eine Gestalt aus dem Dunkel und stapft durch knöcheltiefes, karamellbraunes Abwasser auf

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