Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit
mich zu. Ein hagerer, dunkler Schatten, der bei jedem Schritt ein leises mechanisches Winseln ausstößt. Als er näher kommt, erkenne ich, dass die Frau – denn es ist wohl eine Frau -ein Exoskelett trägt. Ihre Haut ist so schwarz wie der interstellare Raum, und ihr kleiner Kopf mit den gemeißelten Zügen sitzt auf einem Hals, der um etliche Wirbel verlängert wurde. Um diesen Hals trägt sie viele kupferne Ringe, und ihre Fingernägel – mit denen sie klickend gegen die Schenkel des Exoskeletts klopft – sind so lang wie kleine Dolche.
Ich finde, dass sie fremdartig aussieht, doch als sie meiner ansichtig wird, zuckt sie zurück.
»Sind Sie …?«, setzt sie an.
»Ich bin Richard Swift«, antworte ich.
Sie nickt kaum merklich – diesen Hals zu beugen, fällt sicher nicht leicht – und stellt sich vor. »Ich bin Triumvir Verika Abebi vom Lichtschiff Poseidon. Ich kann nur hoffen, dass Sie mir nicht die Zeit stehlen.«
»Ich kann bezahlen, keine Sorge.«
Sie betrachtet mich mit einer Mischung aus Mitleid und Scheu. »Sie haben mir noch nicht gesagt, was Sie von mir wollen.«
»Das ist ganz einfach«, antworte ich. »Ich möchte, dass Sie mich an einen bestimmten Ort bringen.«
ZWEITER TRAUM
T ÜRKIS
»Set sail in those Tarqnoise Days.«
– E CHO AND THE B UNNYMEN
Eins
Naqi Okpik wartete, bis ihre Schwester fest eingeschlafen war, dann ging sie auf den Balkon hinaus, der die ganze Gondel umgab, und trat an das Geländer.
Es war seit Monaten die erste wirklich warme und stille Sommernacht. Sogar der Fahrtwind, den das Luftschiff erzeugte, war wärmer als sonst und strich ihr so weich über die Wange wie der Atem eines Liebhabers. Am Himmel standen, verborgen von der schwarzen Wölbung des Vakuumtanks, die beiden Monde. Sie waren voll. Hundert Meter unterhalb des Luftschiffs schwebten ganze Schulen von mikroskopisch kleinen funkelnden Wesen wie eine Galaxie über dem tiefen Schwarz des Meeres. Leuchtende Spiralen, Dreiecksflossen und Arme drehten und wanden sich, als tanzten sie zu einer unhörbaren Musik.
Naqi schaute nach hinten. Die keramikummantelte Sensorkapsel zog eine Glitzerfurche durch die Nacht. Rosa, rubinrot und neongrün blitzten die Lichter im Kielwasser. Gelegentlich schossen sie nervös wie Eisvögel von einem Punkt zum anderen. Wie immer achtete sie auf Veränderungen in der Bewegung der Boten-Sprites, auf alles, was womöglich eine Kurzmeldung im nächsten Rundschreiben oder sogar einen ganzen Artikel in einer der größeren Fachzeitschriften zum Thema Schieberstudien verdiente. Doch in dieser Nacht geschah nichts Außergewöhnliches, keine noch nicht katalogisierten Formen tauchten auf, es gab keine neuen Verhaltensmuster, keinerlei Hinweise auf irgendwie bedeutsame Aktivitäten der Musterschieber.
Sie ging um den Schiffsbalkon herum, bis sie das Heck erreichte. Die Tauchkapsel mit den Sensoren hing an einer langen faseroptischen Schleppleine. Naqi zog einen Klappstock aus der Tasche, öffnete ihn wie einen Fächer und bewegte ihn vor der Seilwinde hin und her. Das Hintergrundbild mit den Lilien und Seeschlangen verschwand, stattdessen erschienen flimmernde Tabellen, Kurven- und Säulendiagramme. Ein Blick genügte, um festzustellen, dass es auch hier keine Überraschungen gab, aber die Daten konnten immer noch als Vergleichsgrundlage für andere Experimente dienen.
Sie klappte den Fächer sehr vorsichtig wieder zu -er war fast so viel wert wie das ganze Schiff –, als ihr einfiel, dass sie schon einen ganzen Tag lang ihre Post nicht abgeholt hatte. Die Verbindung zwischen der Antenne und der Gondel war nach der letzten Expedition durch die Fäule zerstört worden, und seither war es so umständlich, die Nachrichten abzurufen, dass man sich entweder abwechselte oder die Arbeit gegen eine andere, weniger öde Tätigkeit eintauschte.
Naqi hielt sich an einem Handlauf fest und schwang sich hinter dem Luftschiff nach draußen. An dieser Stelle überragte der Vakuumtank die Gondel nur um einen Meter, und man konnte über eine Metallleiter um den Überhang herum auf die flache Oberseite klettern. Ganz vorsichtig setzte sie ihre bloßen Füße auf die rostigen Sprossen, um Mina nur ja nicht zu stören. Das Luftschiff schaukelte und knarrte ein wenig, bis sie sicher auf der Oberfläche stand, doch dann lag es wieder ruhig in der Luft. Das Motorengeräusch war so leise, dass Naqi es schon lange nicht mehr bewusst wahrnahm.
Es herrschte eine himmlische Ruhe.
Im Mondschein
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