Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit
gekrochen. Jetzt war ihr kalt, und sie fühlte sich schutzlos. Sie zog eine aluminiumbeschichtete Decke aus der Ausrüstungsbox des Floßes und wickelte sich hinein. Die Decke half zwar weder gegen das Zittern noch gegen die Übelkeit, aber sie war eine wenn auch nur symbolische Schutzmauer gegen das Meer.
Wieder sah sie sich um. Von Mina war noch immer nichts zu sehen.
Naqi klappte die wetterfeste Abdeckung über der Steuerung auf und tippte einige Befehle in die wassergeschützte Tastatur. Dann wartete sie auf eine Antwort vom Luftschiff. Die Zeit dehnte sich, doch irgendwann war es so weit: durch den matt glänzenden Silberrücken des Vakuumtanks ging ein kleiner Ruck. Das Luftschiff drehte sich langsam um sich selbst wie ein riesiger Wetterhahn. Es hatte ihren Befehl empfangen und das Floß angepeilt.
Aber wo war Mina?
Neben ihr bewegte sich etwas im Wasser, ringelte sich, zuckte in schwachen Krämpfen. Naqi erkannte entsetzt, was es war. Immer noch zitternd beugte sie sich über die Seitenwand und fischte das zappelnde Ding sanft aus dem Meer. Weiß und gegliedert, einen halben Meter lang, lag es in ihrer Hand wie eine kleine Seeschlange. Sie erkannte es sofort.
Es war Minas Wurm. Und das bedeutete, dass Mina tot war.
Zwei
Zwei Jahre später sah Naqi einen Funken vom Himmel fallen.
Sie stand mit vielen hundert Zuschauern auf einem der elegant geschwungenen Ausleger von Umingmaktok am Geländer. Es war Nachmittag. Alle sichtbaren Flächen der Stadt waren von der Fäule gereinigt und mit einem frischen roten oder smaragdgrünen Anstrich versehen worden. Die Metallseile, von denen die spitz zulaufenden Arme gehalten wurden, die vom turmförmigen Stadtkern mit seinen Geschäften ausgingen, waren mit gelben Fähnchen geschmückt. Die meisten Andockbuchten am Rand der Stadt waren mit Passagier- oder Frachtschiffen belegt. Viele kleinere Schiffe parkten im unmittelbaren Luftraum um Umingmaktok und verwandelten die Schneeflocke, wie Naqi einen Tag zuvor beim Anflug auf die Stadt festgestellt hatte, in ein zartes Filigrangebilde mit blitzenden Steinen. Bei Nacht brannte man Feuerwerke ab. Bei Tag drängten sich Zauberkünstler und andere Bauernfänger durch die Menge. Nasenflötenspieler und Trommeltänzer gaben Stegreifvorstellungen auf rasch improvisierten Podien. Kickboxer wechselten, verfolgt von Aufsichtsbeamten mit Trillerpfeifen, unter dem Jubel der Menge von einem Boxring zum anderen. An hastig aufgestellten Buden mit roten und gelben Wimpeln wurden Erfrischungen und Andenken verkauft oder Tätowierungen angeboten. Hübsch kostümierte Mädchen, die Rucksäcke mit langen Fahnenstangen trugen, hielten Getränke oder Speiseeis feil. Die Kinder spielten mit Luftballons und Rasseln, die das Wappen Umingmaktoks und des Schneeflockenrats trugen, und viele hatten sich so schminken lassen, dass sie wie stilisierte Raumfahrer aussahen. Hier und dort waren Marionettentheater aufgebaut und spielten genau die gleichen Stücke, die Naqi schon aus ihrer Kindheit kannte. Die Kinder waren trotzdem hingerissen und bestaunten jedes der kleinen Dramen, es mochte ein halbwegs zutreffender Bericht über die Besiedlung der Welt sein – wobei man das Kolonistenschiff bis auf das Skelett demontiert hatte, um auch das letzte Gramm Metall noch zu verwerten – oder eine Phantasiegeschichte wie die vom Untergang von Arviat. Die Kinder kümmerte es nicht, dass die eine Handlung auf Tatsachen beruhte, während die andere ein reiner Mythos war. Für sie war es ebenso glaubwürdig, dass die Städte, in denen sie zu Hause waren, aus den Teilen eines vier Kilometer langen Schiffs errichtet sein sollten, wie dass das lebende Meer gelegentlich eine Stadt in die Tiefe riss, wenn sie sein Missfallen erregte. In diesem Alter gingen Magie und Realität noch ineinander, und die Kinder fanden die erwarteten Besucher vermutlich nicht aufregender als das versprochene Feuerwerk oder die anderen Freuden, auf die sie hoffen konnten, wenn sie artig waren. Neben den Kindern gab es auch Tiere zu sehen: Affen und Vögel in Käfigen, und gelegentlich ein kostspieliges Schoßhündchen, das nur ausnahmsweise einmal ausgeführt wurde. Ein paar Servomaten staksten durch die Menge, und gelegentlich schoss eine goldene Kameradrohne herab wie ein verirrter Augapfel und verharrte über einer interessanten Szene. Türkis hatte seit der letzten Streitscheidung kein solches Fest mehr erlebt, und die Nachrichtennetze schlachteten alles gnadenlos aus und
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