Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit
flankiert von hohen, wackelig aussehenden Türmen voller Wohnmodule, Lagerhallen und Baukränen. Nördlich davon schwebten Scharen von schweren Transportluftschiffen. Sie brachten Stahlplatten und Keramikverkleidungen vom Narathiwat-Atoll und ließen ihre Fracht zu den Bautrupps an der Seemauer hinunter.
Seit fast zwanzig Jahren wurde hier nun schon gebaut. Die Seemauer ragte hundert Meter hoch aus dem Wasser, aber das war nur ein Zehntel des Gesamtkomplexes – einem Ring von einem Kilometer Höhe, der auf dem Meeresboden ruhte. In wenigen Monaten sollte auch die letzte Lücke – kaum mehr als eine Kerbe im oberen Rand – mit riesigen Wassertoren hermetisch abgedichtet werden. Dabei musste man notgedrungen sehr langsam und vorsichtig zu Werke gehen, denn man wollte schließlich nicht einfach einen Teil des Meeres absperren. Die Seemauer war vielmehr der Versuch, einen Teil des lebenden Ozeans zu isolieren, eine Gemeinschaft von Musterschieberorganismen innerhalb undurchdringlicher Keramikwände von der Außenwelt abzuschließen.
Das Schnelle Luftschiff glitt tief über die Öffnung hinweg. Zähflüssig und träge wie gerinnendes Blut schwappten die grünen Fluten durch die Lücke. Durch dicke, klebrige Fäden konnten zwischen dem Meer draußen und den wenigen kleinen Knoten innerhalb der Seemauer Informationen übertragen werden. Ständig sichteten Schwimmer innerhalb oder außerhalb des Ringwalls den Zustand des Meeres, um sich zu vergewissern, dass die üblichen Schieberprozesse nicht beeinträchtigt wurden.
Das Luftschiff dockte an einem der beiden Türme neben der Öffnung an.
Naqi stieg aus. Das hektische Treiben in den Korridoren und den Büroräumen des Projektgebäudes hatte sie wieder. Es war ein seltsames Gefühl, auf völlig festem Grund zu stehen. Auch wenn man sich dessen selten bewusst wurde, Umingmaktok stand wie jede Schneeflockenstadt und jedes Luftschiff nie ganz still. Aber sie würde sich schon daran gewöhnen. In ein paar Stunden steckte sie wieder bis über beide Ohren in ihrer Arbeit, musste ein Dutzend verschiedener Dinge gleichzeitig im Auge behalten, Lösungswege austüfteln, die Finanzen in Einklang mit den Qualitätsansprüchen bringen, zwischen unterschiedlichen Persönlichkeiten vermitteln und Revierstreitigkeiten schlichten und konnte vielleicht – mit viel Glück – ein paar Stunden Zeit für echte Forschungsarbeit herausschinden. Bis auf die Forschung wäre nichts von alledem sonderlich anspruchsvoll, aber sie wäre beschäftigt und hätte keine Zeit, an andere Dinge zu denken. Und nach einigen Tagen würde ihr die Ankunft der Besucher wie eine groteske, aber bedeutungslose Episode in einem ansonsten eher langweiligen Traum vorkommen. Vor zwei Jahren wäre sie dafür vermutlich noch dankbar gewesen. Ihr Leben könnte in etwa tatsächlich so weitergehen, wie sie sich das immer vorgestellt hatte.
Doch als sie ihr Büro betrat, wartete da schon eine Nachricht von Dr. Sivaraksa auf sie. Er wollte sie dringend sprechen.
Dr. Jotah Sivaraksas Büro am Seemauer-Projekt war sehr viel kleiner als seine Arbeitsräume in Umingmaktok, aber es hatte eine phantastische Aussicht. Es lag auf halber Höhe eines der Türme zu beiden Seiten der Lücke und ragte aus der Hauptmasse von Fertigmodulen hinaus wie eine halb offene Schublade. Als Naqi eintraf, schrieb Dr. Sivaraksa an einem Bericht. Sie blieb kurz vor dem nach außen geneigten Fenster stehen und sah auf die Arbeiten mehrere hunderte Meter unter sich hinab. Roboter auf Schienen und Arbeiter mit Schutzhelmen beförderten Baumaterial und Geräte über die flache Oberfläche des Ringwalls zu den einzelnen Baustellen. Der Himmel war tief blau und wolkenlos, nur hin und wieder zog der grünfleckige Rumpf eines Transportluftschiffs vorbei. Hinter der Seemauer war die Meeresoberfläche narbig wie teures Leder.
Dr. Sivaraksa räusperte sich, und Naqi drehte sich um. Er deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.
»Geht es Ihnen gut?«
»Kann nicht klagen, Sir.«
»Und die Arbeit?«
»Keine besonderen Probleme, soviel ich weiß.«
»Gut. Gut.« Sivaraksa schrieb rasch eine Anmerkung zu Ende und schob das offene Notizbuch unter einen milchig grauen, würfelförmigen Briefbeschwerer, der auf seinem Schreibtisch stand. »Wie lange ist es jetzt her?«
»Was, Sir?«
»Seit Ihre Schwester … Seit Mina …« Er konnte den Satz nicht vollenden und zeichnete stattdessen mit dem Zeigefinger eine Spirale in die Luft. Seine feingliedrigen
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