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Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit

Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit

Titel: Reynolds, Alastair - Träume von Unendlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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den Naqi für einen Briefbeschwerer gehalten hatte. »Das kommt von der Stimme des Abends. Sehen Sie es sich an.«
    Naqi spähte in die milchig trüben Tiefen. Aus der Nähe konnte sie erkennen, dass in die durchsichtige Matrix Objekte eingebettet waren. Ketten von unbekannten Symbolen, die sich im rechten Winkel kreuzten wie ein kompliziertes weißes Baugerüst.
    »Was ist das?«
    »Mathematik. Ein mathematischer Beweis, wenn Sie so wollen. Unsere konventionelle mathematische Notation – so obskur sie auch sein mag – hat sich so entwickelt, dass sie auf eine zweidimensionale Oberfläche wie ein Display oder ein Blatt Papier geschrieben werden kann. Diese Syntax hier ist dreidimensional und frei von solchen Zwängen. Dadurch ist sie unvergleichlich viel reicher und um ein Vielfaches eleganter.« Sivaraksa drehte den Würfel in der Hand und lächelte. »Niemand wusste etwas damit anzufangen. Doch als ich ihn zum ersten Mal ansah, erschrak ich so, dass ich ihn beinahe hätte fallen lassen. Für mich war alles sonnenklar. Ich verstand nicht nur das Theorem, sondern auch die Pointe. Es ist ein Scherz, Naqi. Ein Witz. Diese Mathematik ist so umfassend, dass sogar so etwas wie Humor darin Platz findet.
    Und dass ich das verstehe, darin besteht das Geschenk der Schieber an mich. Die Fähigkeit lag achtundzwanzig Jahre lang in meinem Bewusstsein verborgen wie ein Küken, das darauf wartete, aus dem Ei zu schlüpfen.«
    Sivaraksa legte den Würfel abrupt auf den Tisch zurück.
    »Es gibt Neuigkeiten«, sagte er.
    Von draußen war Donnergrollen zu hören. Ein Luftschiff warf seine Ladung Stahl ab. Es musste eine der letzten Sendungen gewesen sein.
    »Und welche, Sir?«
    »Sie wollen die Seemauer besichtigen.«
    »Wer sind ›sie‹?«
    »Crane und ihre Vahishta-Bande. Sie haben sich eine Liste aller größeren Forschungsstationen auf Türkis geben lassen, und da sind wir natürlich mit aufgeführt. Sie werden uns besuchen und ein paar Tage bleiben, um zu sehen, wie weit wir gekommen sind.«
    »Es überrascht mich nicht allzu sehr, dass sie um diesen Besuch gebeten haben, Sir.«
    »Mich auch nicht, aber ich hatte gehofft, dass man uns noch ein paar Monate in Ruhe lassen würde. Leider vergebens. Sie kommen schon in einer Woche.«
    »Muss das denn ein Problem für uns sein, Sir?«
    »Es darf keines werden«, sagte Sivaraksa. »Ich mache Sie zum Ansprechpartner für Cranes Gruppe, Naqi. Sie sind die Schnittstelle zwischen den Besuchern und dem Projekt. Damit übertrage ich Ihnen eine große Verantwortung. Ein Fehler – der kleinste Schnitzer – könnte unsere Beziehungen zum Schneeflockenrat empfindlich stören.« Er nickte zu seinem Notepad hin. »Wir befinden uns in einer schwierigen finanziellen Situation. Ganz offen gesagt, Tak Thonburi hat mich in der Hand. Wir dürfen uns auf keinen Fall blamieren.«
    »Nein, Sir.«
    Sie verstand nur zu gut. Er reichte ihr einen Giftbecher, zumindest konnte sich der Becherinhalt jederzeit in Gift verwandeln. Wenn sie Erfolg hatte – wenn der Besuch reibungslos über die Bühne ging –, konnte Sivaraksa einen großen Teil der Lorbeeren einheimsen. Ging jedoch etwas schief, dann hatte er in ihr den Sündenbock gleich zur Hand.
    »Noch etwas.« Sivaraksa holte unter dem Schreibtisch eine Broschüre hervor und schob sie ihr zu. Auf dem Titelblatt prangte eine silberne Schneeflocke. Das Heftchen war mit einem roten Metallband versiegelt. »Öffnen Sie es; ich gebe Ihnen die Vollmacht.«
    »Was ist das, Sir?«
    »Ein Sicherheitsbericht über unsere neuen Freunde. Einer von ihnen benimmt sich ziemlich sonderbar. Sie werden ihn im Auge behalten müssen.«
    Aus unerfindlichen Gründen hatte das Verbindungskomitee beschlossen, Naqi schon einen Tag vor dem offiziellen Besuch mit Amesha Crane und ihren Begleitern bekannt zu machen, während die Gruppe noch in Sukhothai-Sanikiluaq wäre. Die Reise dorthin dauerte fast zwei Tage, obwohl sie einige Etappen mit Schnellen Luftschiffen oder der altersschwachen und wenig zuverlässigen Atoll-Eisenbahn zwischen Narathiwat und Cape Dorset zurücklegen konnte. Als sie Sukhothai-Sanikiluaq erreichte, war bereits samtig violett die Dämmerung hereingebrochen, und sie kam gerade noch zurecht, um das Ende eines Feuerwerks mitzuerleben. Die beiden Schneeflockenstädte waren erst seit drei Wochen vereinigt und betrachteten die Ankunft der Außenweltler als ausgezeichneten Vorwand, die Feierlichkeiten noch zu verlängern. Naqi sah sich das Feuerwerk von einer

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