Rheingau-Roulette
einfaches buntes T-Shirt. In der Hand hielt er ein Telefon und seine Miene zeigte Überraschung, als er in Alexandras Gesicht blickte.
„Hallo Alex! ... Sorry Holger, ich habe eben Besuch bekommen. Wir telefonieren noch mal, wenn ihr genau wisst, wann ihr in Deutschland seid. Sag Pearl unbekannterweise herzliche Grüße von mir! Tschüss.“
Er legte auf und wies auf den Telefonhörer.
„Ein Freund, der in den USA lebt und der mich dieses Jahr endlich mit seiner Frau besuchen kommen möchte.“ Er sah sie aufmerksam an. „Ist was passiert? Du siehst etwas mitgenommen aus!“
Alexandras Stimme war belegt. Sie nickte.
„Ich komme von Arnos Geburtstag. Die Polizei war eben da. Hannes wird verdächtigt, eine Frau im Nachbarort überfallen zu haben.“
„Puuh ... Das ist ja starker Tobak. Na, komm erst mal rein.“ Thessmann trat einen Schritt zurück und machte eine einladende Geste mit der Hand, der Alexandra dankbar folgte.
Das Pfarrhaus war ein älteres Haus mit einem kühlen, dunklen Flur und hohen Räumen. Außen war es weiß verputzt und die Fenster waren mit dunklem Klinker abgesetzt. Einladend, aber auch groß genug als Hinweis auf kirchliche Würde und Bedeutung stand es nicht weit von der Kirche.
Alexandra wusste, dass die untere Etage vorwiegend den dienstlichen Belangen Thessmanns gewidmet war. Konfirmanden, Kirchenvorstand und der Kirchenkreis trafen sich hier regelmäßig. Die mit Stuck verzierten Decken und Türen sahen hochherrschaftlich aus und verliehen dem Inneren eine Aura von Ruhe und Gediegenheit.
Thessmann lotste Alexandra vorbei an der großen Küche und zwei weiteren Türen, bis sie am stumpfen Ende des Flurs in sein Arbeitszimmer traten.
Der Raum war lichtdurchflutet. Bodentiefe Fenster in der Wand ließen das Licht in das Zimmer und erhellten es bis in den letzten Winkel. Die zwei Wände, die keine Fenster oder Türen beherbergten, waren mit raumhohen Bücherregalen ausgestattet, die aus allen Nähten platzten, jedes Fach mit Büchern zugestopft. Türme von Büchern, Heften, Zeitungen, Ordnern und zusammengestapelten Papieren standen vor den Regalen, neben dem Schreibtisch und flankierten die kleine Sitzgruppe, die zwischen den Fenstern und einem der Bücherregale stand. Die Atmosphäre war anheimelnd, der Geruch von alten Büchern, Leder und Vanille lag in der Luft und Alexandra überfiel ein sehnsüchtiges Gefühl nach ihrer alten hessischen Heimat. Das Rauchzimmer ihres Großvaters hatte eine ähnliche Duftnote gehabt. Sie drehte sich um.
„Du liest viel?“
Thessmann lachte sie an und sagte: „Es sieht so aus, nicht wahr? Das gehört dazu. Wenn man Theologie studiert hat, hat man sowieso schon viele Bücher. Und später werden es eben immer mehr. Ich muss gestehen, einem guten Buch kann ich nicht widerstehen, ich bin ein Büchersammler!“ Er machte eine Bewegung zur Sitzgruppe hin, zwei bequem aussehende Sessel aus schwarzem Leder und ein kleines rotes Sofa, das plüschig in der Ecke stand. „Setz dich doch. Möchtest du etwas trinken?“
Alexandra schüttelte den Kopf. Nein, trinken wollte sie jetzt nichts. Sie wusste schon gar nicht mehr, warum sie eigentlich hierhergekommen war. Thessmann konnte ihr auch nicht helfen.
„Was war das mit Hannes und der Frau?“ Er setzte sich auf einen Sessel ihr gegenüber und sah sie aufmerksam an. Alexandra sagte nichts. Nach einem Moment des Schweigens stand Thessmann wieder auf. „Ich glaube, ich hole doch etwas zu trinken.“
Er verschwand in Richtung Küche, aus der sie bald die Geräusche von klappenden Schränken und Geschirr hören konnte, während sie versonnen durch die Fenster in den Garten des Pfarrhauses starrte. Wie und wo sollte sie anfangen? In ihrem Kopf drehte es sich. Sollte sie Thessmann überhaupt etwas über ihre Gefühlssituation erzählen? Von Oliver? Dem verlorenen Kind? Unschlüssig rutschte Alexandra auf dem Sofa hin und her, als Thessmann wieder erschien. Auf einem Tablett vor sich balancierte er zwei große, ballonartige Gläser, zwei Sorten Saft, Mineralwasser, einen Teller mit klein geschnittenen Obststückchen und Zitronenscheiben und eine Schale mit Eiswürfeln.
„Wenn es dir Recht ist, mixe ich uns einen kleinen Fruchtsaftcocktail?“
Alexandra nickte und Thessmann vermischte routiniert die Zutaten zu einem sommerlichen Getränk. Er plauderte locker über die Fruchtsäfte, ihre Herstellung und warum sie so gut zueinander passten. Sein Bemühen, die Situation zu entspannen und sie zum Reden zu
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