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Rheingold

Titel: Rheingold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Grundy
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pulsierte. Die Erinnerung nahm ihm den Atem. Er hob die gefesselten Hände seitlich neben den Kopf und zog sie mit einem so heftigen Ruck über die scharfe Schneide, daß die Kettenglieder zersprangen. Sigmund streckte die Arme und schüttelte sie, um die verkrampften Muskeln zu lockern. Dann umfaßte er die Spitze der Klinge und zog daran. Sie glitt mühelos durch den Spalt, aber der Griff war zu breit. Sinfjotli versuchte, das Schwert durch die enge Öffnung zu schieben und drehte es hin und her. Sigmund hörte das Kratzen der Schneide auf dem Fels, und zum ersten Mal fürchtete er, sie könnte stumpf oder schartig werden. Er legte die Hand um die Klinge; sie war scharf wie immer und hatte inzwischen eine tiefe Mulde in den Stein geschnitten.
    »Zieh sie zurück, stell sie auf und stoß sie noch einmal durch«, sagte er zu Sinfjotli. Die Klinge bohrte sich mit einem dumpfen, unheimlich klingenden Geräusch durch den Stein. Sigmund umfaßte wieder die Schwertspitze, und dann begannnen er und Sinfjotli, einen Keil aus der Felsplatte zu sägen, der groß genug war, daß ein Mann sich hindurchzwängen konnte. Schließlich stand Sinfjotli neben Sigmund. Er tastete nach der Kette an Sigmunds Füßen und hieb sie durch. Die beiden umarmten sich stürmisch. Dann
    umfaßten sie beide den Schwertgriff und stießen und schnitten sich ihren Weg durch die Mauer nach draußen. Der Wind blies heftiger als zuvor, aber die Sterne glitzerten hell am schwarzen Himmel. Der abnehmende Mond blickte blind auf sie herunter.
    »Das Glück ist auf unserer Seite!« sagte Sigmund. »Jetzt haben wir das Recht, Siggeir von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten. Das kann uns niemand verwehren.«
    Sie liefen hinauf zur Halle. Ein junger Mann stand dort Wache. Bei ihrem Anblick wurde er blaß, umfaßte seinen Speer fester und stellte sich vor das Tor.
    »Wie seid ihr aus dem Grab herausgekommen?« fragte er tonlos. Ein tapferer Krieger, dachte Sigmund, andere wären an seiner Stelle bestimmt geflohen. »Gehört ihr noch zu den Lebenden oder seid ihr tot?«
    »Wir leben! Wir haben uns von den Ketten befreit und sind aus dem Grab ausgebrochen«, erwiderte Sinfjotli.
    »Gib den Weg frei!« sagte Sigmund. »Wir wollen zu Siggeir, dem Ingling. Er soll von uns erfahren, daß noch nicht alle Wälsungen tot sind!«
    Der Mann trat stumm beiseite, und die beiden Wälsungen stürmten durch den Vorraum und rissen das Tor der großen Halle auf. Bei ihrem Erscheinen verstummte der Lärm. In der großen Halle hörte man keinen Atemzug mehr. Siggeir starrte Sigmund und Sinfjotli sprachlos an. Siglind saß neben dem Drichten und wartete ruhig.
    Freydis, die Siggeir gegenübersaß, erhob sich langsam. Sie deutete auf den Drichten und rief: »Siggeir, aus der Sippe von Ingwi-Freyjar, deine Idisen wenden sich von dir, und die Götter entziehen dir die Gunst. Du hast den geweihten Hain nicht vor der Verunreinigung durch Blut bewahren und das Leben deiner Kinder nicht schützen können. Die Wälsungen haben sich aus dem Grab befreit. Sieh her! Sigmund hat sein Schwert wieder, ein Unterpfand für das Glück seiner Sippe. Siggeir, du hast keine Erben! Du hast dein Land verloren. Deshalb mußt du als Drichten die Schuld für das Volk bezahlen.«
    Siggeir sprang auf, zog das Schwert und starrte fassungslos auf seine alte Waffe. Langsam senkte er den Kopf und setzte sich. Der weißglühende Blick der Seherin ruhte auf Siggeirs Gefolgsleuten. Einer nach dem anderen erhob sich und ging zum Ausgang. Die Knechte trieben Kühe und Pferde in die Nacht hinaus. Sigmund und Sinfjotli warteten am Tor, bis nur noch Siggeir und Siglind auf ihren Plätzen saßen. »Siggeir, gib meine Schwester frei!« rief Sigmund.
    »Sie kann gehen, wenn sie gehen will«, erwiderte Siggeir mit gebrochener Stimme. »Das Gottesurteil trifft allein den Drichten.« Siglind erhob sich und ging durch die Halle, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sigmunds Herz klopfte vor Freude, aber ihr Gesicht blieb unbewegt und ernst.
    Freydis stand mit einer brennenden Fackel in der Hand draußen vor der Halle. Die Krieger in ihren Kettenhemden häuften Zweige und Äste um die Wände der Halle. Als die drei Wälsungen hinauskamen und das Tor hinter sich schlossen, stieß Freydis die Fackel in das aufgeschichtete Holz. Die feuchten Blätter zischten und qualmten. Zweige flammten auf, verloschen aber gleich wieder. Es dauerte eine Weile, bis auch die dickeren Hölzer Feuer fingen, und die Flammen an der alten Tür

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