Rheinsteigmord - Kriminalroman
wischte sich in einer nervösen Geste über die Glatze, nahm die Brille ab und betrachtete sie. »Das ist jetzt nicht Ihr Ernst«, sagte er und setzte sie wieder auf.
»Es war aber so.«
»Warum sind Sie nicht zur Polizei gegangen und haben das gemeldet? Das tut man gewöhnlich, wenn man angegriffen wird.«
»Ich war mir zuerst nicht sicher. Die Seitenscheibe meines Wagens ist dabei kaputtgegangen. Ihr Kollege hat das doch vorhin sicher bemerkt. Im Wagen fand ich das hier.« Fred griff in die Jeanstasche, holte die Kugel hervor und legte sie auf den Tisch.
»Was soll das sein?«, fragte Steingräber.
»Das ist die Kugel eines französischen Gewehrs. Ein sehr altes Modell. Jedenfalls hat die Kugel dieses Kaliber. Das Gewehr heißt Lebel. Es wurde im Ersten Weltkrieg verwendet. Und der Erste Weltkrieg war Professor Friesdorfs Spezialgebiet.«
»Und wo wurde mit dieser Kugel angeblich auf Sie gefeuert?«
»Im Wald in der Nähe von Rockenfeld.«
»Haben Sie den Schützen gesehen oder sonst eine Beobachtung gemacht?«
»Eben nicht. Ich war mir zunächst nicht mal sicher, ob überhaupt geschossen wurde. Es fuhren Fahrzeuge durch den Wald. Ein Holztransporter. Dann ein Pkw, den ich aber nur gehört, nicht gesehen habe. Ich habe zwar sofort an einen Schuss gedacht. Das heißt zwei Schüsse. Es hat zweimal geknallt. Später habe ich dann aber wieder gezweifelt. Ich dachte, es hätten auch Fehlzündungen gewesen sein können. Und das Loch in der Scheibe ein Steinschlag. Mittlerweile ist mir aber klar, dass ich mit dem Schuss richtiglag. Mal abgesehen von der Kugel, die ich später im Wagen gefunden habe – welcher Steinschlag kann schon eine solche Wirkung haben?«
Steingräber betrachtete die Bleikugel. »Das kommt mir alles ziemlich phantastisch vor«, sagte er. Er blickte auf. »Wo war das, in Rockenfeld? In diesem ehemaligen Dorf? Was haben Sie denn da gemacht?«
Fred erklärte ihm, dass er ein paar Hinweisen nachgegangen war, Themen, mit denen sich Daniela Hecht vor ihrem Tod befasst hatte. »Ich glaube ja nach wie vor an eine Verbindung der beiden Fälle«, sagte er.
Steingräber sah Fred eine Weile schweigend an. »Und da wartet jemand darauf, dass Sie nach Rockenfeld fahren, um auf Sie zu schießen? Kommt Ihnen dieser Gedanke nicht selbst dämlich vor?«
»Dämlich? Ich sage die Wahrheit. Wie Sie es wollten. Es ist alles so passiert, wie ich gesagt habe.«
Der Kommissar wandte sich der Computertastatur zu, die sich seitlich von ihm auf einem kleineren Schreibtisch befand.
»Ich wette hundert zu eins mit Ihnen, dass Friesdorf durch eine vergleichbare Kugel umkam«, sagte Fred.
Steingräber nickte nur und tippte etwas in seinen Computer. Schließlich druckte er ein Dokument aus und legte es Fred zur Unterschrift vor. Es war das Protokoll seiner Vernehmung. Alles, was Fred berichtet hatte, kam darin vor.
»Wollen Sie noch Anzeige gegen unbekannt erstatten?«, fragte Steingräber und startete den Drucker noch einmal für einen zweiten Ausdruck. »Ich meine, wegen des Angriffs im Wald.«
Fred schüttelte den Kopf, unterschrieb und steckte sein Exemplar des Dokuments ein. Dann stand er auf.
»Sie halten sich aber zur Verfügung«, sagte Steingräber. »Und wenn Ihnen noch etwas einfällt, melden Sie sich.«
24
Fred suchte in seiner Erinnerung nach Krimiszenen, in denen sich die ermittelnden Polizisten mit den Angehörigen der Opfer trafen, um ihnen von deren Tod zu berichten. Aus irgendeinem Grund hatte sein Bewusstsein diese Teile der Geschichten, von denen er so viele gelesen und im Fernsehen gesehen hatte, ausgeblendet und auf ganz wenige, schlaglichtartige Momente reduziert.
Frauen, die erfahren, dass sie nun Witwen sind, und schlagartig in Weinkrämpfe ausbrechen. Oder es stoisch hinnehmen. Mit unbewegtem Gesicht dem Kommissar, der die schlechte Botschaft überbringt, entgegensehen. Oder aus dem Fenster des Wohnzimmers starren, in dem sie gerade stehen. Eine mechanische Handlung verrichten, mit der sie schon beschäftigt waren, als die Polizei kam. Blumen gießen. Garten umgraben. Stricken.
Frau Friesdorf hatte die Botschaft ja bereits erhalten. Sie war vorbereitet. Trotzdem hatte Fred ein flaues Gefühl im Magen, als er, Professor Friesdorfs Schirm in der Hand, in Bad Godesberg auf den Klingelknopf drückte. Ihm wurde klar, dass er Schuldgefühle hatte. Wenn er sich nur mehr angestrengt hätte. Dann würde der Professor vielleicht noch leben. Oder Fred hätte, wenn er schon kurz nach seinem
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