Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische
wenn man will«, erklärte Dr. Paul und schien diese Bemerkung durchaus ernst zu meinen. Tatsächlich war er der Ansicht, daß es besser wäre, so manches Verbrechen unter den Teppich zu kehren. Vieles mußte bestraft, vieles verhindert werden. Gar keine Frage. Aber nach seinem Dafürhalten hätte es höchster kriminalistischer Reife entsprochen, all das zu vertuschen, was im Zuge lückenloser Aufklärung voraussichtlich zu noch größerem Schaden führte. Manche Dinge heilten, indem man sie einfach unberührt ließ. Dies galt für eine ganze Reihe von Themen. Es wurde keineswegs zuviel, sondern – im Gegenteil – viel zu wenig vertuscht. Dabei von einer gläsernen Gesellschaft zu sprechen empfand Dr. Paul als ausgesprochen verharmlosend. Er selbst bevorzugte den Begriff einer nackten, einer entblößten Gesellschaft. Das Bedürfnis nach Aufklärung und Offenlegung hatte vielerorts einen Zustand der Schamlosigkeit erreicht. Die Nacktheit oder, noch schlimmer, die freie Sicht, die sich mittels gehobener Röcke und heruntergelassener Hosen ergab, galt sonderbarerweise als Indiz für eine gelebte Demokratie.
Und genau daran mußte Dr. Paul jetzt denken. Es war wie ein Anfall, der ihn schlagartig packte, als er jetzt, ohne wirklichen Anlaß, ausrief: »Eine schöne Demokratie ist das!«
»Nicht doch«, bat Lukastik, der Dr. Pauls plötzliche Ausbrüche zur Genüge kannte.
Aber der Arzt war in diesem Moment unerbittlich. Lautstark beschwerte er sich, es würden immer wieder die persönlichen Verfehlungen gewisser Politiker über deren politische Konzepte gestellt werden.
»Ich frage mich«, sagte Dr. Paul, »was nützt uns ein idiotischer Ehrenmann? Dann doch lieber ein Schweinepriester, der gute Ideen verbreitet. Man würde ja auch nicht auf die Idee kommen, die Qualität etwa eines Philosophen nach seinen Eßgewohnheiten, seiner Verdauung oder an seinem Drogenkonsum zu beurteilen. Nehmen Sie Wittgenstein. Ich habe vor kurzem gelesen, er und sein Freund David Pinsent hätten 1913 in Norwegen versucht, ein ihnen lästiges Wespennest mit Petroleum, dann mit Benzin zu zerstören, um schließlich im Zuge eines dritten, halbwegs geglückten Manövers halbbetäubte Wespen zu zertreten. Zur gleichen Zeit leistete genau dieser Wittgenstein entscheidende Vorarbeiten zu seinem frühen Hauptwerk, dem Tractatus . Man bedenke also, der Mann war erwachsen. Und gerade darum muß sein Angriff auf ein Wespennest als degoutant, hysterisch und dümmlich empfunden werden. Trotzdem hört sein Tractatus natürlich nicht auf, ungemein geistreich zu sein. Auch dann nicht, wenn Wittgenstein es mit Schafen und Hühnern getrieben hätte, was man sich sogar ganz gut vorstellen kann. Sexuell war der Mann ja indiskutabel. Was aber keinen seiner Sätze auch nur kratzt. Und ebenso hört ein guter Politiker nicht auf, ein guter Politiker zu sein, selbst wenn er sich schmieren läßt oder im privaten Kreis Frauenkleider trägt. Sich schmieren zu lassen oder Frauenkleider zu tragen, das wäre erst dann von Bedeutung, wenn es die Politik dieses Mannes maßgeblich beeinflußt. Das muß aber keineswegs der Fall sein. Wäre es der Fall, wäre er wiederum kein guter Politiker, sondern eben bloß ein korrupter oder perverser Kerl.«
»Lieber Dr. Paul!« unterbrach Lukastik den Redeschwall und intonierte solcherart eine Warnung. Denn weder war er sonderlich scharf auf die außermedizinischen Kommentare des Arztes noch wollte er sich weitere Ausführungen hinsichtlich Wittgensteins Verhältnis zu Wespen und Hühnern anhören müssen. Es war allgemein bekannt, daß er, Lukastik, in der intensivsten Weise für die philosophischen Überlegungen Wittgensteins schwärmte, weshalb der gebildete Teil der Polizei gerne diesbezügliche Anspielungen fallenließ. Nichts konnte Lukastik weniger leiden.
Dr. Paul hob abwehrend die Hände. Die Erregung fiel so rasch von ihm ab, wie sie gekommen war. Er versprach, einen haarscharfen Bericht abliefern zu wollen. Dann beugte er sich beschwerlich über den Tisch und legte ein Stück Papier vor Lukastik hin, auf dem ein Name und eine Adresse notiert waren.
»Was soll ich damit?« fragte der Chefinspektor.
»Nehmen Sie die Zahnfragmente und Schuppen und suchen Sie diesen Mann auf. Herr Slatin ist ein alter Freund. Er ist besessen, verschroben und ziemlich unerträglich. Aber er scheint ein begnadeter Meeresbiologe zu sein. Wenngleich er sich aus dem Wissenschaftsbetrieb heraushält. Und zwar rigoros.«
Lukastik
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