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Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische

Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische

Titel: Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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erklärte, sich eine Begnadung in dieser Disziplin nicht so richtig vorstellen zu können.
    »Der Triumph des Geistes kennt keine Standesdünkel«, verkündete Dr. Paul ein wenig hochtrabend. »Es gibt geniale Radfahrer, geniale Theaterbesucher und geniale Installateure. Es besteht keine Disziplin, in der nicht irgendein Genie tätig wäre, mindestens eines. Das ist eine Regel in der Natur des Menschen.«
    »Und dieser Herr Slatin ist also ein solches Genie.«
    »Kann ich nicht wirklich sagen«, gestand Dr. Paul. »Jedenfalls heißt es, kaum jemand würde sich so gut mit Haien auskennen. Wenngleich die akademische Zunft ihn mißachtet. Aber das gehört natürlich dazu. Die Mißachtung ist das wichtigste dekorative Element im Leben eines wirklichen Genies. Ein Genie, das man anerkennt, was wäre das? Nun, es käme einem Sturm ohne Sturmschaden gleich. Also einem Sturm, der weder Bäume knickt noch Dächer abträgt. Der nicht einmal Hüte von Köpfen reißt. Und schon gar nicht Poeten anregt. Keine Krämpfe verursacht, keine schlaflosen Nächte. Also ein Sturm im Wasserglas, wie man so sagt.«
    »Wäre es nicht sinnvoller«, zweifelte Lukastik, »wir würden uns bei dieser Recherche an die Universität halten. Schließlich benötigen wir weniger ein verwirrend brillantes Gutachten als eine präzise Analyse.«
    »Mein Bester, Sie können doch machen, was Sie für richtig halten. Zwar habe ich Herrn Slatin bereits angekündigt, Sie würden vorbeisehen – nur, um keine Zeit zu verlieren. Aber das kann man ja rückgängig machen.«
    »Schon gut«, winkte Lukastik ab, nahm den Zettel vom Tisch, steckte ihn ein und erhob sich. Dann bat er: »Seien Sie so nett und packen Sie mir die Zähne ein.«
    »Gerne«, sagte Dr. Paul und nahm eine Telephonkarte zur Hand, mittels derer er die einzelnen Fragmente zu einer geraden Linie zusammenschob und sie in einer Aluminiumhülse mit Schraubdeckel verschloß. Es sah aus, als portioniere er Kokain. Dann stand er auf und trat hinüber zu Lukastik, der sich über die Leiche beugte, die unter dem grellen Licht einer Operationsleuchte durchaus selbst wie ein großer, heller Fisch aussah. Noch deutlicher als im Wasser und am Beckenrand war nun die verrenkte Haltung zu erkennen, der weit in den Nacken geschobene Kopf, die nach oben gerichteten, paarig spitzen Schulterteile, der zu einer Brücke gebogene Rumpf, die gegen die schlanke Taille gepreßten, kegelförmigen Unterarme sowie die verkrallte Stellung der Finger der rechten Hand, während das Fehlen der linken Hand eine Pathetik des leeren Raums schuf. Das vorhandene Bein wies vom Knie abwärts zahlreiche Bißstellen auf und war wie ein verdrehtes Puppenbein aus der Symmetrie des Körpers ausgebrochen. Der Hai, oder wer auch immer, schien versucht zu haben, auch diesen Teil vom Körper loszusägen.
    Im Kontrast zur krampfartigen Verbogenheit des Körpers und des Kopfes stand das Gesicht des Mannes. Nicht, daß sich im Moment des Todes eine Gelöstheit der Züge ergeben hätte, ein Erschlaffen, wie dies immer wieder gerne beschrieben wird. Vielmehr besaß das Antlitz einen interessierten Ausdruck, als sei dieser Mann gerade dabeigewesen, eine Frage zu stellen. Keine dramatische Frage, wie etwa die nach dem Sinn des Lebens oder erst recht des Todes. Eher eine alltägliche Erkundigung. Überhaupt offenbarte sich hier ein Mensch, der dem Alltäglichen und Handfesten verbunden gewesen war. Er trug einen modischen Spitzbart, in dem einzelne graue Haare das Schwarz linierten. Dasselbe Schwarz, das gewissermaßen unliniert seine Kopfhaut füllte. Haarausfall war nicht sein Problem gewesen. Wenn er tatsächlich annähernd so alt wie Lukastik und Jordan gewesen war, hatte er sich gut gehalten. Kein schönes, aber ein markantes Gesicht. Um die offenen Augen herum spannte sich ein feines Netz, das man für ein Relikt attraktiver Lachfalten halten konnte. Die Lippen waren zwar nicht wulstig zu nennen, aber doch auffallend groß. Der Mund halb geöffnet.
    »Schöne Zähne, nicht wahr?« sagte der Arzt. »Ich schau mir immer zuerst die Zähne an. Erstklassiger Zustand. Da gibt’s nichts zu meckern. Dieser Mann hat sich auf ein langes Leben vorbereitet. Schade.«
    »Die Ohren?«
    »Stimmt. Die Sache mit dem Hörgerät.« Dr. Paul griff nach einer Pinzette, zog die kleine Hörhilfe aus dem linken Ohr heraus, hielt sie ein paar Sekunden in die Luft und schob sie sodann wieder zurück an ihren Platz. Dazu kommentierte er: »Paßt! Es ist, als gleite

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