Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische
ungeheuerliche Eigenmächtigkeit, daß Lukastik keiner Seele von dieser quasi testamentarischen Äußerung Sternbachs berichtete, dem Major nicht und auch sonst niemanden. Und zwar genau darum, weil er sich als alleiniger Nutznießer von »Sternbachs Testament« empfand, als einziger, der zu diesem Erbe berechtigt war. Nicht umsonst, dachte Lukastik, hatte Sternbach ihn seinen »Vertreter« genannt.
Lukastik wollte den ganzen Fall in derselben Weise zu Ende führen, wie er ihn bisher behandelt hatte. Nämlich als eine primär persönliche Angelegenheit. Als eine Auseinandersetzung mit einem Rätsel, das keines war, keines sein konnte, eben weil Rätsel nicht existierten, sondern bloß im Zuge falscher Betrachtungen und ungenauer Einsichten entstanden.
Lukastik war überzeugt, daß die Entzauberung dieses Rätsels nur dann restlos gelingen konnte, wenn er sich zunächst einmal ohne jegliche Assistenz Eintritt in jene Wohnung verschaffte, die zu Barwick gehörte, wer auch immer sich hinter diesem Namen verbarg. Wenn es sich überhaupt um den Namen einer Person oder einer Familie handelte. Möglicherweise wurde damit ein Unternehmen bezeichnet. Oder etwas, an das Lukastik nicht dachte, hier und jetzt noch gar nicht denken konnte. Sternbach hatte ja nicht etwa von Herrn oder Frau Barwick gesprochen, sondern den Namen fanal- und fanfarenartig, gleich einem Vermächtnis, in den Raum gestellt.
Lukastik und Dr. Paul fuhren durch ein Land, das im Sonntag wie gelähmt dastand. Auch die Einfahrt nach Wien war so schwach frequentiert, daß Lukastik die mehrspurige Fahrbahn dazu benutzen konnte, den Ford Mustang an die Grenzen seiner Möglichkeiten zu bringen, eine unsichtbare Peitsche einsetzend. Es war wohl der Kopfschmerz, der ihn dazu verführte, sich auf ein Tempo einzulassen, das jenseits dessen lag, was sich gehörte. Geradeso, als wollte er irgend etwas Utopisches und Phantastisches versuchen, eine Zeitmauer durchspringen oder in ein paralleles Universum eindringen. Oder auch nur sterben. Der Wagen begann deutlich zu vibrieren. Dr. Paul warf einen verstohlenen Blick zu seinem Chauffeur hinüber, wie um einen Irren zu beobachten, dessen Anfall man geduldig abzuwarten hatte.
»Entschuldigung«, sagte Lukastik, nachdem er zu sich gekommen und vom Gas gestiegen war. Er lenkte den Wagen die Brücke hinauf, die über das im Sonnenlicht silbrige Band der Donau führte. Man befand sich jetzt zwischen den beiden Teilen der Stadt, hinter sich, wenn man so will, das neue Wien, gewissermaßen den Rückstoß der Zukunft, die ja nicht wirklich existiert, die Zukunft, sondern eben bloß in Form solcher Rückstöße. Vergleichbar einem Automobil, das nur noch aus seinen Abgasen besteht.
Vor ihnen aber lag das alte Wien, allerdings bereichert um einige Neuerungen und zahllose Renovationen. Dieses alte Wien, von dem es heißt, der liebe Gott hätte es mit viel Herzblut, aber ohne Verstand geschaffen, flimmerte jetzt in der diesigen Mittagshitze und erinnerte an dampfenden Milchreis. Natürlich waren die öffentlichen Bäder vollgestopft und lagen die Menschen – aufgereiht wie abgeschossenes Wild – in den Parkanlagen, die Straßen aber waren leer. Doppelt so rasch wie üblich erreichte Lukastik Dr. Pauls Adresse. Der Arzt verabschiedete sich mit der Bemerkung, froh zu sein, daß alles so glimpflich ausgegangen sei. Allerdings habe er noch immer ein ziemlich schlechtes Gewissen wegen …
»Keine Selbstgeißelungen«, befahl Lukastik und wünschte noch einen schönen Sonntag. Dann fuhr er davon. Er warf einen Blick in den Rückspiegel. Dr. Paul stand in dieser typischen Ein-Männlein-steht-im-Walde-Haltung auf dem Gehsteig und wirkte in der eigenen Gasse wie ein verlustig gegangener Tourist. Dr. Paul haßte Sonntage. Aber welcher Wiener tat das nicht?
Die beste Art, um mit diesem Sonntag-Haß fertig zu werden, bestand darin, zur Arbeit zu gehen. Und genau dies tat Lukastik nun, indem er seinen Wagen in Richtung jenes flachen, von neuen und neuesten Bauten geradezu zersägten Stadtteils lenkte, der Alterlaa heißt und auf dessen flachem Boden jene markanten Wohnhaustürme standen, die an geometrisierte Vulkankegel erinnerten. Schlanke, hohe Körper. Massiv, aber nicht unelegant. Elegant, aber ohne Pose. Denn wenn zuvor gesagt worden war, daß Gott diese Stadt mit viel Herzblut und wenig Verstand geschaffen hatte, dann war im Falle besagter Hochhäuser genau das Gegenteil der Fall. Kein Tropfen Blut, aber viel von Gottes
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