Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische
Freund erwiesen hatte als je ein Mensch in seinem Leben. Und mit Sicherheit wäre auch kein noch so treuer Hund an die Treue dieses Buches herangekommen.
Er schlug seinen Tractatus auf und blätterte darin mit der Sicherheit eines Exegeten. Nicht, daß es wirklich wichtig war, was er auswählte. Aber es sollte eben nicht völlig unpassend sein. Er entschied sich schließlich für jene Seite, auf der die schematische Darstellung eines Auges samt einem tropfenförmigen Gesichtsfeld abgebildet war, eine Form, die Wittgenstein verneint, indem er behauptet, daß kein Teil unserer Erfahrung auch a priori ist, und somit alles, was wir sehen, auch anders sein könnte.
Es war eine schlichte, glasklare Kühnheit, welche diese Seite bestimmte. Gerade richtig. Die Rückseite allerdings war ziemlich massiv belegt mit jenen logischen Notationszeichen, die ein unmathematisches Gemüt in einige Verzweiflung stürzen konnte.
Lukastik griff an die obere, innere Kante des Papiers und riß die Seite aus dem Buch heraus. Sogleich dachte er an die grausamen Spiele seiner Kindheit, wenn er zusammen mit Freunden einen informativen Sadismus praktiziert und diversen Spinnen und Ameisen die Beine vom Rumpf abgetrennt oder die Körper von Regenwürmern portioniert hatte.
Er faltete in der Folge das vom vielen Gebrauch aufgerauhte Papier, und zwar so, daß jene Abbildung eines Auges samt tropfenförmigem Gesichtsfeld nach außen wies. Dieses nun auf die Größe eines Paßbildes zusammengelegte Blatt drückte Lukastik zwei, drei Millimeter in jene Spalte hinein, die zwischen dem äußeren Teil des Türrahmens und der Wand im Flur bestand. Und zwar ein wenig oberhalb der eigenen Augenhöhe.
Jemand, der die Wohnung verließ, würde dieses Stückchen Papier wohl kaum bemerken, sehr wohl aber jemand, der von draußen kam und vor dieser Tür stehenblieb. Einen detektivischen Blick vorausgesetzt.
Im Grunde war seine Handlung – auch wenn Lukastik sich dies kaum eingestand – eine rituelle. Wie um einen bösen Geist in die Schranken zu weisen oder eine unerfreuliche Zukunft zu bannen. Gerade darum hatte er sich ja dazu hinreißen lassen, ausgerechnet eine Seite aus seinem Lieblingsbuch, seinem persönlichen Evangelium, zu entfernen. Das war ein drastischer, dramatischer und im Grunde unnötiger, noch dazu verschlüsselter Akt, obgleich ein paar von Lukastiks Mitarbeitern von dessen Existenz als Wittgensteinianer wußten und deshalb der Verführung erlegen waren, einen Blick in den Tractatus zu werfen (wobei die meisten das Büchlein rasch wieder geschlossen hatten, in etwa wie man sich von bestimmten Bildern in medizinischen Publikationen abwendet). Doch wirklich vernünftig war Lukastiks Vorgehen natürlich nicht. Vernünftig wäre der Einsatz einer Spezialeinheit gewesen. Wenn man die Vernunft an der eigenen Sicherheit bemaß.
Genau dies tat Lukastik aber nicht, sondern schob die Eingangstür weiter zur Seite und betrat einen Vorraum, der im warmen, gelben Licht mehrerer kerzenförmiger Wandleuchten lag, deren Schein fächerartig zur Decke wuchs. Über das helle Violett der Tapete zog sich ein goldenes Blüten- und Vogelmuster. Ein ovaler, von dunklem, blütenreichem Schnitzwerk umrahmter Spiegel hing über einem bauchhohen Nußbaumschrank. Zwei Stühle mit dunkelgrüner, seidener Polsterung und medaillonförmigen Lehnen waren gegen die Wand gerückt. Auf einem davon lag der Prospekt einer Supermarktkette, der einzige Hinweis darauf, in welcher Zeit man eigentlich lebte.
Auf Lukastik machte dieses Zimmerchen den Eindruck eines Warteraums, eines ewigen Warteraums, der nicht wirklich einem Ziel oder einer Aktion vorgelagert war, sondern dem Warten an sich diente.
Eine weiterführende Tür war geschlossen. Allein das winzige Gleisen dort, wo ein leeres Schlüsselloch lag, verriet die Helligkeit des Raums, welcher sich dahinter befinden mußte. Lukastik drückte die geschwungene Klinke und öffnete die Tür. Eine Flut von Tageslicht blendete seine Augen derart, daß er sie für einen Moment schließen mußte. Als er sie wieder auftat, blickte er in einen Raum, der quasi eine Vergrößerung des Wartezimmers darstellte, die gleiche Tapete, die gleichen Sitzmöbel, die gleichen Wandleuchten, bloß eingefaßt in die Helligkeit des Tages.
Lukastik wollte jetzt »Hallo!« sagen. Er kam nicht mehr dazu. Etwas näherte sich rasch von der Seite her, wie ungefähr Autos oder Straßenbahnen ungesehen auf einen zuschießen, während man vor sich
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