Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische
des Vorgesetzten, »ich will von Ihnen nicht hören, was Sie denken oder glauben. Ich will wissen, woher diese Geweihe stammen. Ganz einfach.«
Aber das stimmte nicht. Es war Lukastik völlig egal, was es mit den Geweihen auf sich hatte. Er spielte bloß seine Rolle, tat im Grunde, was man von ihm erwartete, indem er hier auftauchte, eine kleine Unruhe verursachte und wieder ging. Was er nun auch vollzog. Er verließ den Raum, trat vorbei an den erleichterten Polizisten und stieg in eine der orangefarbenen Liftkabinen.
Er fühlte sich nun wesentlich besser als noch kurz zuvor. Die Kopfschmerzen trieben bloß noch als ein Epilog durch seinen Schädel. Als winke jemand zum Abschied. Auch der Druck auf die Augen war gewichen. Möglicherweise hing diese Besserung mit dem plötzlichen Gefühl der Euphorie zusammen, einer Euphorie, die sich immer dann einstellte, wenn Lukastik meinte, auf ein Ende zuzugehen. Ein definitives Ende. Er drückte die Taste mit der Fünf.
Der Gang in der fünften Etage war menschenleer. Von den Aufzügen ausgehend, erstreckte sich der Flur nach zwei Seiten. Beide Abschnitte waren durch eine versperrte, von einem Drahtnetz durchwobene Glastür gesichert. Dahinter lagen die Wohnungen, so daß Lukastik gezwungen war, die neben der Glastür angebrachte Gegensprechanlage zu benutzen.
»Barwick«, las er laut, wie um einem unsichtbaren Publikum das Erwartete zu bestätigen. Dann drückte er die entsprechende Taste.
Nach einigen Sekunden meldete sich eine Stimme, die einen ungemein rauhen, blechernen Klang besaß, als trage die betreffende Person einen scheppernden Ventilator im Kehlkopf. Es war Lukastik unmöglich zu beurteilen, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelte. Allerdings war er überzeugt, einen jungen oder jüngeren Menschen ausschließen zu können. Man mußte schon eine ganze Weile gelebt haben, um über eine solche Stimme zu verfügen.
»Machen Sie auf«, ordnete Lukastik im Ton des Polizisten an, der er war. Natürlich nannte er weder seinen Namen noch seinen Dienstrang.
»Wer ist da?« verlangte die Stimme Auskunft.
Lukastik überlegte, sich als ein Freund Sternbachs auszugeben. Aber dann fiel ihm ein, daß Sternbach von ihm, Lukastik, als von seinem »Vertreter« gesprochen hatte. Und im Zuge dieser Erinnerung entschloß sich der Chefinspektor zu einer für ihn wohl typischen Tollheit, indem er sagte: »Mein Name ist Egon Sternbach.«
»O ja, natürlich«, mischte sich eine Spur von Süßlichkeit in den dunklen Gehalt der Stimme. »Kommen Sie herein.«
Lukastik drückte die surrende, auf eine sanfte, einladende Weise vibrierende Tür auf und trat in den schmalen, schachtartigen Gang, der zu beiden Seiten mit Wohnungstüren ausgestattet war. Lukastik hatte erwartet, daß die Person, die den Namen Barwick trug oder vertrat, einen Schritt auf den Flur machen oder zumindest mit dem Kopf hinter dem Türstock hervorlugen würde. Nichts davon war der Fall. Vielmehr stand eine der Türen halb offen. Ein Namensschild gab es nicht, aber es mußte sich wohl um die Barwicksche Wohnung handeln.
Eine gewisse Vorsicht war natürlich angebracht. Aber wie sah eine gewisse Vorsicht denn eigentlich aus? Eine Waffe, die er hätte zücken können, besaß Lukastik nicht und wäre sich auch lächerlich vorgekommen, eine solche vor sich herhaltend – als versuche er ein Loch in die Luft zu bohren –, eine fremde Wohnung zu betreten oder gar zu stürmen. Auch hielt er es für viel zu umständlich, noch einmal kehrtzumachen, um jene Beamten einzubeziehen, die sechszehn Etagen weiter oben ihren Dienst versahen und sich so völlig der Schönheit einer Blüte roter Fingernägel hingaben. Zudem wäre zu befürchten gewesen, daß die Einsatzleiterin augenblicklich Major Albrich benachrichtigt hätte. Nein, Lukastik mußte den einmal eingeschlagenen Weg konsequent zu Ende gehen. Denn erst ein zu Ende gegangener Weg bot jene Information, welche imstande war, ein Rätsel endgültig zu demontieren. Allerdings war die gegebene Situation, daß nämlich niemand sich in dieser offen stehenden Tür zeigte, ein viel zu deutliches, ein geradezu populäres Zeichen für eine Gefahr, als daß Lukastik jetzt völlig sorglos hätte eintreten können.
Die Idee, die sich nun einstellte, schmerzte ihn, erschien ihm aber dennoch sinnvoll. Er griff in seine Sakkotasche und zog das rote, handliche Büchlein heraus, das in all den Jahren sein Begleiter gewesen war und sich wahrlich als ein größerer, besserer
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