Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische
alles so zu lassen, wie es ist.
Jordan schaltete den Computer an, schenkte kalten Kaffee in seine Tasse und begann damit, sich durch das sogenannte weltweite Netz zu bewegen. Der Begriff des »Surfens« erschien ihm übertrieben, viel zu sportiv und dynamisch angesichts der Trödeleien, dem unentwegten Hängenbleiben und Umherhinken, dem Durchwühlen sinnloser Anhäufungen sowie dem Erlahmen im Dickicht genau jener Informationen, die man gar nicht benötigte. Weshalb Jordan nur selten nach einer bestimmte Sache Ausschau hielt, sondern vielmehr in diesem Netz spazierenging und sich kaum darüber aufregte, wenn die Wege, auf denen er dahinschritt, absolut nichts zu seiner Weiterbildung oder auch nur Unterhaltung beitrugen. Manchmal genügte es, einfach in Bewegung zu sein.
Und er blieb eine ganze Weile in Bewegung. Den gesamten Nachmittag über blätterte er in den elektronischen Seiten, stolperte über so manche Kuriosität, wunderte sich wieder einmal angesichts der Interessen und Obsessionen der Menschen und staunte erneut über die Akribie, mit der die selbsternannten Genies sich einem Thema ungeniert näherten und dieses Thema mit Verbissenheit auseinandernahmen. Es waren ja vor allem größenwahnsinnige Laien, welche die Expansion des Netzes betrieben, seinen inflationären Charakter bestimmten und den Eindruck entstehen ließen, es handle sich hierbei um die endlose Explosion eines einzigen Gehirns. Selbst jene Seiten, die von Professionalisten stammten oder zumindest über eine professionelle Gestaltung verfügten, besaßen etwas Dilettantisches. Keine dieser »Bühnen« wirkte fertig. Eine jede Information schien auf wackeligen Beinen zu stehen und im ersten Moment ihres Aufscheinens bereits überholt zu sein. Alles im Netz, so neu und glänzend und perfekt es sein mochte, mutete wie von gestern an. Als studiere man die Wettervorhersage von vor zwei Tagen.
Nichtsdestotrotz genoß Jordan diesen Spaziergang, der ihn vorbei an allen möglichen und auch unmöglichen, weil gefälschten Sportresultaten zu Dingen wie bemalten Motorrädern, Dopinglisten, Wehklagen, Partnerbörsen, Bildhauerkursen, Aufrufen zum Widerstand, mathematischen Rätseln und kriminaltechnischen Erörterungen führte. Es kam ihm vor, als stecke er seinen Kopf in einen großen Haufen abgefallener Herbstblätter.
Es war bereits kurz vor sechs, als Jordan den Suchbegriff Alterlaa einsetzte und auf einer Seite landete, die den Namen odyb trug und für deren Gestaltung eine Gruppe mit dem Titel Werk-Stadt-Team verantwortlich zeichnete. Jordan meinte zunächst, daß es sich bei der quadratischen Abbildung, die auf seinem Schirm Stück für Stück, jedoch jedes Mal blitzlichtartig Gestalt annahm, um ein abstraktes Muster handelte, stellte dann aber fest, verschiedene kleine Standbilder vor sich zu haben, von denen je sieben Stück eine der sieben Reihen bildeten. Klickte man eines davon an, so blähte es sich auf und füllte den Bildschirm, daß nur noch ein schmaler Balken am oberen und unteren Rand freiblieb.
Es war zunächst einmal die am unteren Streifen eingeblendete digitale Uhrzeit mit den zügig sich abwechselnden Ziffern der Sekundenanzeige, die Jordans Interesse weckte und ihn dazu animierte, sich eine der Fotographien näher anzusehen. Eine Fotographie, die keine war. Vielmehr handelte es sich um eine Liveübertragung, auch wenn sich dieser Umstand vorerst nur schwer erschloß. Nicht die geringste Bewegung erfolgte. Zudem war wenig mehr als eine Gleisanlage zu erkennen, die entweder durch einen Tunnel führte oder im Dunkel einer fremden Nacht lag.
Ersteres war der Fall. Denn Jordan las jetzt die Aufschrift auf dem oberen Balken, die ihn darüber informierte, sich im Angesicht eines Tunnels der Wiener U-Bahn zu befinden, und zwar genau in jenem Bereich, welcher unterhalb des Donaukanals liege. Kurz darauf wurde dieser Hinweis insofern bestätigt, als aus der Schwärze heraus die Scheinwerfer eines sich nähernden Führerwagens rasch aufkeimten und in der Folge das undeutliche, vibrierende Bild einer vorbeischießenden U -Bahn sichtbar wurde. Danach schwebten kleine, glitzernde Partikel zu Boden, als schneie es mitten im Tunnel. Es folgte die alte Ruhe.
Jordan ging nun zurück zu jenem Gesamt-Tableau und klickte weitere Einzelbilder an. Er konnte feststellen, daß das Werk Stadt-Team , aus welcher Leidenschaft heraus auch immer, diverse Kameras in den unterirdischen Bereichen der Stadt angebracht hatte (einer Stadt, die das
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