Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische
Unterirdische ja verkörpert wie ein Hahn den Morgen oder ein Rührei die Zerschlagung dieses Morgens).
Durch die Livecams war es dem Benutzer der Webseite möglich, Einblick in ausgewählte »untertägige« Orte der Stadt zu nehmen. Teils handelte es sich um durchaus belebte Plätze, wie jene geschwungene, halb nach oben hin offene Unterführung nahe der alten Universität, dann wieder blickte Jordan auf ein im Licht einer herrenlosen Taschenlampe sich als völlig leer erweisendes Kellerabteil, welches sich laut beigefügter Beschreibung unterhalb des Sterbehauses Franz Schuberts befinde. Die verschiedenen Kameras, von denen einige mit Scheinwerfern ausgestattet schienen, präsentierten unterirdisch gelegene Archive, Kammern, Baugruben, eine Gruft, eine Tiefgarage, einen Heizraum, auch eine Küche, auch einen Weinkeller. Man sah Obdachlose, die sich trotz Sommer in einem ominösen Stollen einquartiert hatten, und konnte die probenden Mitglieder einer Rockband im Abflußschacht einer aufgelassenen Fabrik beobachten. Durch eine Minikamera gelang sogar der Blick in die Erdhöhle eines urbanen Nagetiers. Und selbstverständlich war eine der Übertragungen dem mit filmischer Weihe ausgestatteten städtischen Kanalsystem gewidmet.
Nachdem Jordan die ersten dieser subterranen Plätze mit einiger Aufmerksamkeit betrachtet und sich Gedanken über die Sinnhaftigkeit einer solchen Dokumentation in Echtzeit gemacht hatte, überkam ihn eine sonntägliche Schläfrigkeit, so daß er bald nur noch rasche und ziemlich achtlose Blicke auf die jeweiligen Kameraeinstellungen warf. Er vergaß allen Ernstes, über welchen Suchbegriff er überhaupt auf diese Seite gelangt war.
Genau darum konnte es passierte, daß Jordan erst im nachhinein – als er bereits seinen Computer ausgeschaltet hatte und sich auf dem Weg zu Major Albrich befand – eine Merkwürdigkeit zu Bewußtsein kam, die bis dahin bloß wie ein verhülltes Bild in seinem Hirn gehangen war. Jetzt aber drängte sich ihm eine vage Erinnerung auf, eine Ahnung dessen, was er bei der flüchtigen Sichtung unterirdischer Orte flüchtig wahrgenommen hatte.
Er rannte zurück in sein Büro, schaltete das Gerät an und begab sich erneut auf jene Seite namens odyb . Weil die im Tableau vereinten Bilder geradezu winzig waren und Jordan auch gar nicht so genau wußte, wonach er eigentlich suchte, benötigte er mehrere Versuche und geriet erneut in die Fundamente von Schuberts Sterbehaus und das einer Parteizentrale.
Dann jedoch entdeckte er jenen Übertragungsort, der sich ihm bloß unbewußt, aber mit dem nötigen Nachdruck eingeprägt hatte. Wobei Jordan zunächst einmal achselzuckend zur Kenntnis nehmen mußte, wenig Aufregendes zu erleben: dunkles Wasser vor einer fernen Wand aus Beton. Der schmale Schein der Kameralampe zog als linealartig unterteilte Linie über die Oberfläche. Das war es auch schon. Dann jedoch sah Jordan auf die Kopfzeile des Bildschirms und las mit nun klarsichtigem Erstaunen, daß es sich hierbei um einen »gefluteten« Bereich unterhalb der Wohnhausanlage von Alterlaa handeln würde, einen Bereich, welcher »offiziell nicht existiere«. Seine Überraschung nahm ein noch weit größeres Ausmaß an, als er für einen kurzen Moment, aber ohne einen Mangel an Deutlichkeit, eine markante, spitz zulaufende Rückenflosse aus dem Wasser auftauchen sah.
Jordan besaß nun sicherlich viel zuwenig Ahnung, um hundertprozentig die Rückenflosse eines Hais von der eines anderen großen Fisches, etwa eines Delphins oder Schwertfisches zu unterscheiden. Auf keinen Fall aber war ein solch städtisches Gewässer dazu angetan, einen Fisch zu beherbergen, der eine Rückenflosse von derartiger Größe und Schnittigkeit besaß. Jordan wartete noch eine Weile. Nachdem aber nichts weiteres geschah, das Wasser wieder dunkel und still und nur ein wenig gekräuselt dalag, schloß er die Seite.
Über ein Defizit an Information konnte er sich diesmal wirklich nicht beschweren. Er lief hinüber zu Albrich, der bereits zusammen mit Edda Boehm und einem unbekannten Mann um einen Konferenztisch aus bläulichbraunem Glas saß, in dessen Fläche sich eine jede Person wie eine von diesen Teichenten präzise spiegelte. Lukastik aber fehlte.
»Lukastik fehlt«, sagte Jordan, als ob dies nicht offensichtlich gewesen wäre. Ausnahmsweise war es so, daß er sich nicht durch die Anwesenheit, sondern die Abwesenheit seines Vorgesetzten verunsichert fühlte. Es widerstrebte ihm, von seiner
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