Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische
tatsächlich in einen Bereich, an dem sich eine längst vergangene Kühle konserviert zu haben schien. Eine Kühle gleich der Anordnung verschiedener Gesteinsschichten, von denen die unterste direkt ins Mittelalter führte. Winter aus dem 13. Jahrhundert.
Gleichzeitig strömte durch die Öffnungen, die zwischen den Säulen und Bögen auf einen umschlossenen Hof wiesen, warme Luft herein, die eher eine frühlingshafte Qualität besaß, wie ein leinenes Gewebe, das angenehm auf der Haut liegt. Folglich war Lukastik mehr als zufrieden mit diesem Ortswechsel und mußte sich zwingen, nicht etwa eine Geste der Dankbarkeit zu zeigen.
Der junge Mönch führte seinen Gast entlang den frühgotischen Südflügel in ein knospenartig angefügtes Brunnenhaus. Unter dem gerippten Gewölbe standen nun der Polizist und der Kleriker wie in einer luftigen Kapsel, vor sich den Granitbrunnen, aus dessen floralem Speier das Wasser sprudelte und an ein kleines, dauerredendes Kind erinnerte.
»Angenehm hier«, gestand Lukastik.
»Sie können ruhig rauchen, wenn Sie wollen«, sagte Bruder Isidor.
»Was denn? Inmitten mittelalterlicher Strenge?«
»Das Wasserbecken, so wie es jetzt hier steht, wurde erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts errichtet. Wenn Sie das beruhigt?«
»Also gut«, meinte Lukastik, »rauchen wir.«
Tatsächlich nahm der Mönch die angebotene Zigarette an und ließ sich Feuer geben. Er inhalierte mit der Eleganz seiner ganzen Erscheinung. Als zeige er, daß es beim Rauchen darauf ankam, wie man es tat. Auf nichts sonst. Und daß man dabei eine Haltung einnehmen konnte, die der Schönheit dieses Kreuzganges und dieses Brunnenhauses entsprach.
Nachdem sie eine Weile geraucht hatten – Lukastik nicht ohne Neid ob der guten Figur, die sein Gegenüber machte –, fragte Bruder Isidor, wie er dem Chefinspektor dienen könne.
»Eine unschöne Sache«, sagte Lukastik, »mit der ich Sie belästigen muß.«
»Das Unschöne ist Teil der Welt«, postulierte der Geistliche. »Eine bloß schöne Welt könnte nie das Reine hervorbringen.«
»Das ist die richtige Einstellung«, nickte Lukastik und erklärte, sein Erscheinen hänge mit einem Mord zusammen, der in Wien begangen worden sei. Das Opfer aber stamme aus Zwettl. Es handle sich um den Graphologen Oborin.
Weder bekreuzigte sich der Sekretär des Abts, noch murmelte er irgendeine Formel. Weder schien er wie vom Schlag gerührt noch gleichgültig. Er drückte die Zigarette am granitenen Mauerwerk aus, schloß seine linke Faust um den Stummel und sagte: »Das tut mir leid. Herr Oborin war ein häufiger und gern gesehener Gast in unserem Haus. Ein Förderer der Handschriftensammlung.«
»Ich weiß. Er scheint sich aber auch für die ganz persönlichen Handschriften der Mönche interessiert zu haben.«
»Für jedermanns Handschrift. Eine fixe Idee, sicherlich. Aber eine erfreuliche fixe Idee. Herr Oborins Forschung war in keiner Weise tendenziös. Wir haben ihm gerne zur Verfügung gestanden. Ein paar geschriebene Sätze, ein paar Briefe formeller Natur, Notizen, Kritzeleien aus Kindertagen.«
»Wonach hat er gesucht?«
»Nun, erstens einmal ist es ihm wohl darum gegangen, einen Überblick zu gewinnen. Die meisten Wissenschaftler wollen das. Wenn gesagt wird, daß in einer einzigen Zelle jede biologische Information einer Kreatur enthalten ist, so hat Herr Oborin gemeint, daß in einem einzigen geschriebenen Wort alles eingeschlossen sei, was über das Wesen dieses Menschen gesagt werden könne. Man müsse eben nur den richtigen Blick dafür besitzen. Einen mikroskopischen Blick, wie er das nannte.«
»Damit gebe ich mich nicht zufrieden.«
»Herr Oborin war ein religiöser Mensch. Aber auch ein Skeptiker. Man kann an Gott glauben, ohne eine einzige Frage zu stellen. Man kann Gott aber auch suchen. Tobias Oborin hat ihn gesucht, eben nicht anhand der Heiligen Schrift, wie wir dies tun, sondern anhand der Schrift eines jeden Menschen.«
»Und? Hat er ihn gefunden?« fragte der Polizist und legte mit einer verstohlenen Bewegung seine zu Ende gerauchte Zigarette auf die steinerne Brüstung.
»Kann man das so sagen? Kann man sagen, ich habe Gott gefunden wie einen verlorengegangenen Schlüssel oder gar wie eine abgetrennte Fingerkuppe? Wohl kaum. Auf jeden Fall ist mir Herr Oborin in letzter Zeit aufgeregt erschienen. Euphorisch, aber auch nervös. Geradeso, als sei ihm in seiner Forschung ein entscheidender Schritt gelungen. Ohne daß ich Ihnen leider sagen kann, worin
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