Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische
Dann fragte sie: »Haben Sie schon geliebt?«
»Himmel, was für eine Frage? Wo sind wir eigentlich?«
Esther Kosáry sah sich um, als müsse sie die Bemerkung wörtlich nehmen. Auch Lukastik konzentrierte sich nun auf die Umgebung, die weiten Felder und den hohen Himmel, der jetzt weniger blau war, sondern vielmehr aus einer blaustichigen, grellen Weiße bestand, wie die Autoscheinwerfer neuerer Modelle sie verströmten.
Lukastiks Blick blieb an einer großen Werbetafel hängen, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf ein Metallgerüst montiert war und von jenen Autofahrern gesichtet wurde, die in die Richtung fuhren, aus der Lukastik und Kosáry eben gekommen waren. Ganz offenkundig gehörte die sehr ordentlich gestaltete Aufschrift nicht zu der kleinen, verkommenen Raststätte, vor der Lukastik und Kosáry gerade saßen. Wofür hätte dieses löchrige Etablissement auch werben sollen? Für Kaffee aus der Thermoskanne?
Der Winkel, in dem Lukastik zur Tafel saß, reichte gerade noch aus, um den großen, über einem kleineren Text thronenden Schriftzug entziffern zu können, der zu beiden Seiten von der identischen Darstellung einer bestimmten Pflanze eingerahmt wurde, die mit Goldfarbe ausgemalt war. Es mochte simplerweise dieses Gold sein, wenngleich nicht gelblich und matt, sondern rötlich und stark glänzend, welches Lukastik dazu animierte, die in dunkelgrünen Lettern gedruckte Aufschrift zu lesen: Hotel zum goldenen Huflattich .
Nun, das war eine recht konventionelle Namensgebung für ein Hotel auf dem Lande, nichts, wofür man sich hätte interessieren müssen. Dennoch erhob sich Lukastik, angetrieben von einem Gedanken, der eigentlich noch gar nicht vorhanden war, der sich erst vorbereitete, wie sich ein Husten mit einem leichten Kratzen im Hals ankündigt.
Lukastiks näherte sich der Straße und damit dem Schild auf der anderen Seite, und indem er nun den restlichen Text studierte, erfuhr er, daß dieses Hotel am Rande von Nullpunkt lag und über ein angeschlossenes Sanatorium verfügte, wo diverse Naturheilverfahren praktiziert wurden. Einige vielversprechende Begriffe wie Ayurveda, Pranayama und Akupunktur betonten den exotischen Einschlag mancher Behandlungsmethode. Vor allem aber gelang es diesem Werbetext – ohne dabei allzu deutlich zu werden – den Unterschied zwischen dem Hotel und dem Sanatorium dahingehend herauszustellen, daß die Gäste sich im Hotelrestaurant mit deftigen Speisen vollstopfen könnten, um dann im Sanatorium die leidigen Folgen solcher Selbstmästung wiederaufzuheben. Jedenfalls wurde zwischen der Hotelküche und der Sanatoriumsküche eine Trennlinie gezogen, welche somit im »Grenzort« Nullpunkt eine Grenze in sich bildete.
Das alles war es aber nicht, was Lukastik dazu veranlaßte, gebannt auf die Tafel zu sehen. Weder war er an einer Gesundung seiner Person noch an lukullischen Genüssen interessiert. Die Vorstellung von der unaufgeregt-bodenständigen Küche des Weinhauses Sittl reichte ihm vollauf. Nein, was ihm hier und jetzt zu denken gab, das war jener dublierte Terminus, mit dem sich das Hotel schmückte. Goldener Huflattich . Irgendwas war dran an dem Begriff.
Wenn nun Sternbach mit »Allgemeinwissen« die Lehre von den Heilpflanzen gemeint hatte, dann war das nicht gerade Lukastiks Domäne. Er scheute den Aufwand solcher Naturmedizin. Wenn er krank war, nahm er die nächstbeste Tablette. Auf eine bestimmte Weise halfen sie alle, auf eine bestimmte Weise schadete eine jede. Der große Vorteil von Pillen bestand nach Lukastiks Auffassung in ihrer Schnelligkeit. Wobei weniger die Schnelligkeit gemeint war, mit der sie wirkten, als das Tempo, mit dem man sie sich einverleiben konnte. Ein Schluck, und es war geschafft. Was danach kam, war selten das große Glück und selten das große Unglück. Krankheiten verhalfen sich so oder so zu ihrem Recht.
Im Vergleich dazu erschienen Lukastik jene Bemühungen, wie sie etwa im Ausquetschen von Blättern oder im Einatmen penetranter Dämpfe bestanden, als Prozeduren, die weniger dem Körper halfen, als daß sie den insgeheimen Wunsch nach einer emphatisch ausgelebten Krankheit erfüllten. Krankheit war immerhin ein probates Mittel, eine Persönlichkeit zu entwickeln. Und umständliche Heilung der dekorativste Ausdruck dieser Krankheit und damit dieser Persönlichkeit.
Jedenfalls war Chefinspektor Lukastik diesbezüglich ein Banause und tat sich schwer, das eine Kraut vom anderen zu unterscheiden.
Er kehrte
Weitere Kostenlose Bücher