Richard Lukastik Bd. 2 - Mariaschwarz
bequemen, mit weinrotem Samt überzogenen Sitzbank Platz. Er war ein mittelgroßer, halbdicker, in seiner Lebensmitte angekommener Mann – vorausgesetzt, er würde achtzig werden, was er aber nicht wurde. Er trug eine schwarze Hornbrille, hinter der seine Augen einen begrabenen Eindruck machten. Sein Anzug war erste Qualität, aber unauffällig. Er hatte die Beine übereinandergeschlagen. Die schwarzen Schuhe glänzten wie frisch ins Netz gegangen. Der ganze Grünberg wirkte gelassen und selbstsicher. Nicht aber überheblich. Er schien Überheblichkeit nicht nötig zu haben.
Das war ein schlechtes Zeichen.
»Aber wenn man in eine neue Wohnung zieht…«, sagte Lukastik, während er sich links neben Grünberg setzte.
»Sind natürlich Löcher zu sehen«, vollendete Grünberg. »Wenn man sie sehen will. Aber wer will das schon? Darum werden auch so rasch als möglich Bilder an die Wand genagelt. Kalender, Poster, Firlefanz. Oder ganze Wandschränke aufgestellt.«
»Man könnte die Löcher schließen, sie zumauern oder verkitten.«
»Haben Sie das schon einmal versucht?« fragte Grünberg.
Lukastik war in die Falle gegangen. Denn wenn er diese angeblichen Löcher für Blödsinn hielt, dann brauchte er sie auch nicht zu verkitten. Oder? Lukastik sagte: »Reden wir über Colanino.«
»Gerne, Herr Chefinspektor. Immerhin haben Sie einen Gegenstand aus dem Besitz dieses Unternehmens entwendet.«
»Ich verstehe nicht.«
»Sie verstehen ganz gut. Sie wissen, daß ich von der kleinen Plastikfigur spreche, die Sie in der Wohnung Giorgio Straubs eingesteckt haben.«
»Herr Straub ist nicht Colanino«, erinnerte Lukastik.
»Herr Straub«, erwiderte Grünberg, »war ein Mitarbeiter, dessen primäre Aufgabe darin bestand, eine bestimmte Serie von Colanino-Figuren zusammenzuhalten. Eine komplette Serie.«
»Wieso um Himmels willen das denn?«
»Um Löcher zu schließen. Es gibt nämlich auch unsichtbare Löcher. Löcher in der Luft, die wahrscheinlich sehr viel gefährlicher sind als die sichtbaren Löcher in den Wänden. Es scheint so zu sein, daß unsere Welt weit weniger vom Offenkundigen und Evidenten bestimmt wird als von Dingen, die wir auf den ersten Blick als unwirklich empfinden, als phantastisch, als magisch. Aber was heißt Magie? Entweder gibt es Löcher, so mysteriös sie uns erscheinen mögen, oder es gibt sie nicht. Wenn es sie gibt, sind sie Teil der Natur und nicht Teil der Magie. Faktische Löcher, die wir nicht beweisen können, sind darum nicht weniger real. Im Gegenteil. Ihre Auswirkungen treffen uns mit doppelter Wucht.«
»Was für Auswirkungen? Sprechen Sie jetzt wieder von der schlechten Luft, die durch all diese Löcher weht?«
»Ich rede vom Unglück, ich rede vom Fluch, der auf jedem einzelnen, auf Zusammenschlüssen, auf ganzen Gemeinschaften liegt. Auch der Fluch, der Vereinigungen wie die Gruppo Colanino belastet, der Fluch zu scheitern, zu verlieren, zersprengt, aufgefressen, geschluckt, pulverisiert, im besten Fall verkauft zu werden. Das ist keine Frage von gutem oder schlechtem Management. Wer das noch glaubt, ist ein armer Idiot.«
»Es scheint viele arme Idioten zu geben«, meinte Lukastik.
»Genau so sieht die Welt ja aus. Ein kluger Mensch hingegen akzeptiert auch Gesetze, die er nicht versteht. Zumindest so lange, bis er sie versteht. Denn um ein Gesetz zu brechen, sollte man es tunlichst vorher begriffen haben. – Die zuständigen Herren und Damen bei Colanino haben begriffen. Sie sind so vernünftig, darauf zu achten, all die Löcher zu stopfen oder zu verdecken, die ruchbar werden. Löcher, die der Firma schaden könnten. Zu dieser Strategie gehört es nun, an bestimmten Orten dieser Welt vollständige Sammlungen von Colanino-Figuren aufzustellen und sie dort auch zu belassen.«
»Das muß ich jetzt aber nicht glauben.« Lukastik grinste. Er grinste wie bei einer Harnröhrenuntersuchung.
Auch Grünberg grinste. Allerdings sehr viel entspannter. Er sagte: »Das sollten Sie mir aber glauben, lieber Inspektor. Es ist der entscheidende Teil dieser ganzen Geschichte, ja, eigentlich sein einfachster. Die Gruppo Colanino bannt den Fluch, der über ihrem wie jedem anderen Unternehmen steht, dadurch, kleine Figurengruppen aufzustellen, durchaus vergleichbar einer Krippe, einem Altar oder Steinkreis. Solcherart werden Löcher geschlossen, die schädlich für das Unternehmen wären. Das ist so wenig Aberglaube, wie es Aberglaube ist, einen Eiterherd zu entfernen, um einen
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