Richard Lukastik Bd. 2 - Mariaschwarz
in gleichem Maße in die Verantwortung nehmend. Allerdings verlor er dabei auch die Lust, weiterzulesen, war nur noch ein Träger dieses Buches. Er lugte neben sich, zu einem Sitznachbarn, auf dessen Monitor ein Film lief, der eben erst begonnen hatte. Lukastik erkannte das Gesicht von Jodie Foster. Man sah sie zusammen mit einem Mädchen, das offenkundig die Rolle der Tochter spielte. Die beiden nahmen in der hinteren Reihe eines Flugzeuges Platz.
Auch wenn Lukastik nun keine Möglichkeit hatte, zu verstehen, was in diesem Film gesprochen wurde, und er zunächst auch nur sporadisch mitsah, begriff er dennoch, um was es in der Hauptsache ging. Und wurde zusehends aufmerksamer und interessierter. Denn es geschah in diesem Film, daß Jodie Foster, nachdem sie auf ihrem Sitz einschläft und wieder erwacht, feststellen muß, daß ihre Tochter verschwunden ist. In einem Flugzeug! Foster beginnt zu suchen, findet das Kind aber nicht, gerät immer mehr in Aufregung, drangsaliert die Crew und steht alsbald vor dem Problem, daß nicht nur ihre Tochter nicht auftaucht, sondern zudem von jedermann bezweifelt wird, daß dieses Kind überhaupt je an Bord kam.
Natürlich, auch wenn niemand von der Mannschaft und den anderen Fluggästen das Kind bemerkt zu haben scheint, die Zuseher des Films natürlich schon. Sie waren Zeuge. Aber was haben sie da wirklich gesehen? Einen Traum? Eine Halluzination? Halluziniert von Jodie Foster, die ihrerseits anfängt, an der eigenen Version zu zweifeln. Am eigenen Verstand.
Es gibt nun eine Sequenz in diesem Film, die nach Lukastiks Anschauung großartiger nicht hätte sein können. In dem Augenblick nämlich, da die völlig verzweifelte Jodie Foster an ihren Platz zurückgelangt und endlich bereit ist, sich selbst als wahnsinnig zu begreifen, stiert sie auf das Sichtfenster, atmet aus und haucht dabei die Scheibe an.Auf diese Weise wird ein kleines Herz sichtbar, eine Fingerzeichnung, die nur von ihrer Tochter stammen kann.
Man kennt das ja selbst, die Fingertapser der Kinder auf den Badezimmerspiegeln, Spuren, die sich ewig zu halten scheinen und bei etwas Feuchtigkeit oder dem richtigen Lichteinfall wie aus dem Inneren des Spiegels erneut auftauchen, sich zeigen, eine unverkennbare Chiffre des Lebens bilden. So wie dieselben Kinder später auf die Wände von Toiletten kritzeln, hier pißte …
Jodie Foster identifiziert den Abdruck eines Fingers und damit den Abdruck der Wirklichkeit. Ihre Tochter existiert, muß sich an Bord des Flugzeugs befinden.
Der traurige Rest des Films erschöpfte sich in konventioneller Action. Achterbahnfahrt im Bauch des Fliegers, Pistolen, Bomben, ein Bösewicht, viel Glück und Zufall und zum Schluß ein amerikanischer Seelenfrieden. Mutter und Tochter, alles gut.
Natürlich hatte sich Lukastik nur darum von diesem Film nicht losreißen können, weil selbiger ihn so sehr an das Dilemma des Vinzent Olander erinnerte, dem ja auch niemand glaubte, daß er eine Tochter besaß, die entführt worden war. Als wäre eine Entführung nicht schon schlimm genug.
Eins freilich war im Falle Olanders deutlich anders. Er schien in keiner Weise daran zu zweifeln, daß seine Tochter existierte, seine Clara. Gleich, was die anderen sagten. Die anderen waren für Olander Betrogene und Blinde. Er selbst aber, er benötigte keinen kleinen Abdruck einer Hand. Er benötigte nicht einmal ein Foto in seiner Geldbörse. Er wußte, was er wußte. Und genau dies erschien als ein Beweis für seine Verrücktheit. Ein Mensch, der sich für wahnsinnig hält, ist es nicht. Der Wahnsinnige aber hält alle anderen für verrückt. Und da ist ja auch etwas dran, wenn wir die Welt durch zwei teilen.
Olander brauchte also keinen Händeabdruck. Was aber würde geschehen, wenn Lukastik einen solchen entdeckte, einen Hinweis auf Clara? Daran dachte er jetzt. Fast wünschte er sich etwas Derartiges, überzeugt jedoch, daß es nicht geschehen würde.
Nach einer ewigen Warterei stieg man endlich in den Flieger und war eine Stunde darauf in Mailand. Für ein Treffen mit Longhi war es zu spät. Ein Carabiniere brachte Lukastik in sein Hotel, wo er nach einem kurzen Abendessen auf sein Zimmer ging und eine ruhige Nacht verbrachte. Er schlief gut in fremden Betten, so wie er gut in fremden Anzügen lebte.
Dementsprechend ausgeruht, traf er sich am nächsten Morgen mit Longhi in einem Café aus viel rotlackiertem Holz. Longhis Stammlokal, schien es. Der Kommissar wurde behandelt, als sei er der Patron.
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