Richard Lukastik Bd. 2 - Mariaschwarz
diesem Zimmer, auf diesem Bett, ohne daß jemand davon erfuhr. Ich hätte mir so gewünscht, sie wäre auf ewig unentdeckt geblieben. Es gab keinen besseren Ort für ihren schönen Körper als diesen tiefen, dunklen See. Wenigstens habt ihr bloß noch ihre Knochen gefunden. Das ist wohl das Schicksal der Menschen, daß ihre Knochen übrigbleiben. Und wo es Knochen gibt, gibt es immer jemanden, der die Knochen ausgräbt. Selbst nach Millionen Jahren besteht noch die Gefahr, von irgendwelchen Ehrgeizlingen aus der Erde geschaufelt zu werden.
Es war Andreas Idee gewesen, daß Chiara und ich nach Hiltroff gehen, um uns dort in eine neue Identität zu fügen, fern von meinem Mann, über den ich hier kein Wort verlieren möchte, weil er kein einziges verdient, nicht einmal ein schlechtes. Er verdient den Tod. Möge sich ein ungnädiger Teufel seiner annehmen.
Andrea kannte Hiltroff aus den Erzählungen des Taxifahrers Giorgio Straub, der früher hier gearbeitet hat, in der Kunststoffabrik, ein Laden, der in Wirklichkeit von den Italienern kontrolliert wird, der Colaninomischpoche. Straub war Andreas Freund, ich denke, der einzig wirkliche, den Andrea hatte. Straub hat immer von diesem See geschwärmt, vom vielen Nebel und den schweren Wolken, was ihm so viel lieber war, als in Mailand zu sein. Straub hat den See geliebt. Er hat uns gesagt: Der See wird euch glücklich machen. Straub hat uns geholfen, die Sache vorzubereiten, neue Papiere, einen neuen Namen, Kontakte nach Hiltroff, zur Fabrik, wo ich anfangs zu den Frauen gehörte, die die Figuren bemalten. Aber ich vertrug die Farbe nicht. Also begann ich die Büros zu putzen, später auch die beiden Hotels. Ich putzte da und dort. Ich kann sagen, ich putzte das Dorf. Und dann bekam ich dieses Zimmer hier, das blaue Zimmer, wie sie es nennen. Man soll nicht glauben, wie wenig man braucht, um zufrieden zu sein. Einen kleinen Beruf, ein Kind, das man heranwachsen sieht, Spaziergänge im Nebel, hin und wieder einen Film im Kino, sonntags in die Kirche…Ich habe Vinzent in diesen drei Jahren, seit er in Hiltroff ist, kein einziges Mal in der Kirche gesehen. Ich dachte, er ist Katholik. War ihm die Kirche nicht groß genug? Nicht kunsthistorisch genug? Hat er die Kirche gemieden, weil dort kein Alkohol ausgeschenkt wird?
Wäre er in die Kirche gegangen, hätte er mich vielleicht erkannt. Heilige Maria, was für ein blinder, selbstgerechter Mensch. Es stimmt, ich habe ihn einmal geliebt, ich dachte einmal – als ginge das wirklich, als könnte man einen schlechten Mann durch einen guten ersetzen, als könnte man Schnaps, der einen blind macht, in Schnaps, der einen schön macht, verwandeln – ich dachte also, er könnte Teil meines neuen Lebens werden. Im Grunde war es ja seine Idee gewesen, meinen Mann zu verlassen und das Kind mitzunehmen. Auch Vinzent wollte neu anfangen. Alle Menschen wollen das. Aber dann ist mir klar geworden, daß Vinzent nicht der richtige ist. Nicht der richtige Mann für mich und nicht der richtige Vater für meine Tochter. Straub sollte ihm das sagen. Nicht, daß die beiden sich kannten. Aber Straub wußte, wie Vinzent aussah. Und er wußte, wo er war. Er brauchte ihn nur vor dem Flughafen abpassen und ihm dann erklären, daß ich es mir anders überlegt hätte. Und daß ich ihn inständig darum bitte, mir nicht hinterherzufahren, mich nicht zu suchen, mich in Ruhe zu lassen. Es würde schlimm genug sein, mich vor meinem Mann verstecken zu müssen. Ja, das sollte Straub ihm sagen. Aber dazu scheint es nicht gekommen zu sein. Es geschah dieser Unfall, der gar kein Unfall war. Die Leute, für die Straub seit jeher gearbeitet hat, wollten ihn aus dem Verkehr ziehen. Vollkommen abstrus. Straub war doch bloß ein kleiner Kurier gewesen, ein kleiner Zuträger, kein Mann, der eine Staatsaffäre hätte lostreten können. Aber es gibt diese Mächtigen, die immer ganz sicher gehen wollen. Die immer übertreiben müssen. Colanino! In Italien ist die Übertreibung zu Hause. Ein schreckliches Land. Gott behüte, daß ich je wieder zu diesen Barbaren muß.
Wie es scheint, hat Vinzent nach dem Unfall ein paar Dinge durcheinandergebracht. Sich Sachen eingebildet. Der verrückte Kerl. Er hat sogar Andrea aufgetrieben. Es muß so sein, daß er ihr nach Hiltroff gefolgt ist. Wie auch sonst hätte er herfinden können? Der Plan war gewesen, daß Andrea ein Jahr abwartet, so lange, bis ich alles geordnet habe. Und daß sie dann Mailand verläßt und zu uns zieht.
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