Rigor Mortis: Thriller Ein neuer Fall für Roy Grace (German Edition)
identifizierte?«
Sie schluchzte wieder. »Es wäre besser. Sie würde mir ohnehin nicht glauben.«
18
TOOTH WAR KLEIN. Damit hatte er seit seiner Kindheit zu kämpfen gehabt. Die anderen Kinder hatten sich deswegen über ihn lustig gemacht. Aber meist nur einmal.
Er war eines der winzigsten Babys, die der Gynäkologe Harvey Shannon aus Brooklyn jemals entbunden hatte, obwohl er keine Frühgeburt war. Seine Mutter war so zugedröhnt, dass sie die Schwangerschaft sechs Monate lang nicht bemerkt hatte. Dr. Shannon bezweifelte, dass sie die Geburt überhaupt mitbekommen hatte, und die Mitarbeiter im Krankenhaus erzählten, sie habe das Kind verwundert angeschaut, als fragte sie sich, woher es gekommen sei.
Doch der Gynäkologe sah ein noch größeres Problem. Das Zentralnervensystem des Jungen schien vollkommen falsch verdrahtet. Er schien keine Schmerzrezeptoren zu besitzen. Man konnte dem winzigen Würmchen eine Nadel in den Arm stechen, ohne dass es reagierte, während normale Babys aus vollem Hals losbrüllten. Das konnte alle möglichen Gründe haben, doch vermutlich lag es am Drogenkonsum der Mutter.
Tooths Mutter starb an verunreinigtem Heroin, als er drei Jahre alt war. Seine Kindheit verbrachte er in den unterschiedlichsten Pflegefamilien in ganz Amerika. Er blieb nie lange, weil ihn keiner leiden konnte. Er machte den Leuten Angst.
Als er elf war und wegen seiner Größe gehänselt wurde, lernte er Kampfsport und konnte bald jeden, der ihn in Zorn versetzte, übel verletzen. So übel, dass er keine Schule länger als ein paar Monate besuchte. Die anderen Kinder hatten so große Angst vor ihm, dass man ihn immer wieder nach kurzer Zeit der Schule verwies.
In der letzten Schule lernte er, mit seiner Anomalität Geld zu verdienen. Mit dem Kampfsport hatte er sich auch eine ungeheure Selbstkontrolle angeeignet und war in der Lage, bis zu fünf Minuten lang die Luft anzuhalten. Nun forderte er die anderen gegen Geld heraus. Oder sie durften ihm für einen Dollar pro Schlag so fest wie möglich in den Magen boxen. Für fünf Dollar durften sie ihm einen Kugelschreiber in den Arm oder ins Bein bohren. Näher kam er seinen Klassenkameraden nie. Er hatte in seinem ganzen Leben noch keinen richtigen Freund gehabt. Auch mit einundvierzig nicht. Nur seinen Hund Yossarian.
Allerdings waren Tooth und sein Hund weniger Freunde als Partner, genau wie die Leute, für die er arbeitete. Der Hund war ein hässliches Exemplar. Er hatte verschiedenfarbige Augen, eins leuchtend rot, das andere grau, und sah aus wie eine Kreuzung aus Dalmatiner und Mops. Er war nach einer Figur in einem der wenigen Bücher benannt, die Tooth zu Ende gelesen hatte: Catch 22. Das Buch begann damit, dass sich ein Typ namens Yossarian gegen jede Vernunft auf den ersten Blick in seinen Kaplan verliebt. Dieser Hund wiederum hatte sich gegen jede Vernunft auf den ersten Blick in ihn verliebt. Er war ihm vor vier Jahren auf einer Straße in Beverly Hills nachgelaufen, als Tooth gerade ein Haus zwecks Einbruch ausspionierte.
Es war eine breite, ruhige, elegante Straße mit sonnengedörrten Bäumen, großen, frei stehenden Häusern und viel schimmerndem Chrom in den Einfahrten. Die Rasenflächen sahen aus wie mit der Nagelschere geschnitten, die Sprenger zischten vor sich hin, und eine Armee hispanischer Gärtner machte sich an den Beeten zu schaffen.
Der Hund passte nicht in diese Straße. Er war räudig und hatte ein entzündetes Auge. Tooth hatte keine Ahnung von Hunden, aber dieser hier sah nicht nach irgendeiner Rasse aus und schon gar nicht nach einem der Designerhündchen, die man in dieser Gegend gewöhnlich antraf. Vielleicht war er von einem hispanischen Lastwagen gesprungen. Oder jemand hatte ihn aus dem Auto geworfen, weil er hoffte, dass die reichen Leute Mitleid mit ihm hätten.
Stattdessen hatte er ihn gefunden.
Von Tooth bekam er Futter, kein Mitgefühl.
Mit Mitgefühl hatte er nichts am Hut.
19
»WAS – WAS PASSIERT JETZT?«, fragte Carly den Polizisten.
»Ich möchte, dass Sie hier unterschreiben.« Dan Pattenden reichte ihr einen weißen Papierstreifen, auf dem Test: Carly Chase stand. Ein Stück weiter unten stand Probe 1 – 10.42 Uhr – 55 und Probe 2 – 10.45 Uhr – 55.
Ihre Hand zitterte so sehr, dass sie kaum unterschreiben konnte.
»Ich bringe Sie jetzt in eine Zelle, in der Sie auf Ihren Anwalt warten können.« Er unterzeichnete den Zettel ebenfalls. »Man wird Sie in Gegenwart Ihres Anwalts erstmalig
Weitere Kostenlose Bücher