Ringwelt 06: Flatlander
deutete auf einen facettierten Brocken in beträchtlicher Entfernung. Es war der markanteste Punkt in der gesamten Umgebung. Ich hatte ihn bereits in der Dunkelheit leuchten gesehen, hell strahlend vom Licht der gerade aufgehenden Sonne, als ich am Morgen aus meinem Fenster geblickt hatte.
Wir folgten Naomi, die bereits auf den Felsen zuging. »Sind Sie hinaufgeklettert?« wollte Marion wissen.
»Ja.«
Die Sonne stand ganz niedrig über dem Horizont. Die meiste Zeit über gingen wir durch nachtschwarzen Schatten. Hätten wir nicht unsere Helmscheinwerfer gehabt, es wäre stockfinster gewesen. Der Untergrund war uneben. Naomi stolperte ebenso häufig wie ich, viel häufiger jedenfalls als die Lunies. Auch Marion hatte Probleme.
Sie gebot Naomi anzuhalten, als deutlich wurde, daß der Weg um einen Sporn aus vulkanischem Glas herumführen würde. »In Ordnung, was befindet sich hinter diesem Vorsprung?« fragte sie.
»Ich weiß es nicht«, entgegnete Naomi. »Es war dunkel, und alles hat ganz anders ausgesehen. Ich bin nicht einmal sicher, ob ich beim ersten Mal auf dem gleichen Weg hergekommen bin.«
Der Felsen war gut tausend Fuß hoch und nicht sonderlich steil. Von oben aus hat man einen guten Ausblick auf Hovestraydt City, dachte ich, doch wir befanden uns nördlich der Stelle, an der Chris Penzler seinen Attentäter für einen kurzen Moment hatte stehen sehen. Ein Polizist wies Naomi an, voranzuklettern.
Sie war nicht gerade geschickt in der niedrigen Gravitation, und der Ballondruckanzug behinderte sie noch zusätzlich in ihren Bewegungen. Doch sie hatte keinerlei Schwierigkeiten, bis wir eine Höhe von dreihundert Fuß erreichten. Dort begann sie auf einmal zu schreien. Sie machte kehrt und kam gefährlich schnell den Berg herunter.
»Der Fels ist heiß!« beschwerte sie sich. »Ich habe mich durch den Anzug hindurch verbrannt!«
»Wo?« erkundigte sich Alan Watson.
»Auf der Brust und an den Armen. Es geht schon wieder, glaube ich jedenfalls, aber ich kann im Tageslicht nicht dort hinauf. Soll ich es vielleicht auf der anderen Seite versuchen?«
»Nein, vergessen Sie’s«, sagte Marion. »Wohin als nächstes?«
Naomi führte uns nach Süden. Ich fragte mich, ob wir auf diese Weise etwas herausfinden würden. Gleichgültig, ob sie nun log oder nicht – ihre Antwort würde dieselbe sein: Es war dunkel, ich kenne mich auf dem Mond nicht aus, ich bin wahrscheinlich nicht auf dem gleichen Weg gekommen wie jetzt. Als ich aus meiner Badewanne gestiegen war, hatten die oberen hundert Fuß des Felsens im hellen Sonnenlicht geglüht. Warum hatte sie heute versucht, die Sonnenseite des Felsens zu erklimmen, wenn sie bereits gestern Abend die Erfahrung gemacht hatte, daß das Gestein durch die Sonne derart erhitzt wurde?
Selbstverständlich hätte sie auch früher aufbrechen können … und den Felsen in totaler Finsternis ersteigen. Irgendetwas gefiel mir ganz und gar nicht.
Und ich haßte die Gegend, durch die sie uns nun führte.
Die Landschaft war mir vertraut. Ich hatte sie in Miniatur durchkämmt, ihre Konturen mit meiner imaginären Hand gespürt. Halb erinnerte ich mich an markante oder merkwürdige Geländeformen, und nicht anders ging es scheinbar auch Naomi.
Beispielsweise erinnerte sie sich an einen hügelgroßen Felsbrocken, der glatt in der Mitte durchgebrochen war und mit den flachen Seiten nach oben lag. Naomi beschrieb ihn uns, bevor wir dort ankamen. Sie deutete auf eine Hälfte des zersprungenen Monolithen und sagte: »Auf den dort bin ich geklettert. Ich lag auf dem Rücken und habe die Sterne angesehen und manchmal auch Hovestraydt City. Zu diesem Zeitpunkt war mehr als die Hälfte aller Fenster bereits dunkel. Das Licht im Hintergrund von den Spiegelwerken und vom Raumhafen ergab eine schöne Silhouette.«
Sie machte Anstalten, auf den Stein zu klettern, doch Marion zerrte sie zurück. Die orange gekleideten Polizisten suchten mit starken Handscheinwerfern nach Stiefelspuren, Kratzern oder anderen Spuren, die Naomi möglicherweise hinterlassen hatte. Nach einer Weile gaben sie die Suche ergebnislos auf. Erst dann sprangen Watson und Jefferson mit einem einzigen mächtigen Satz auf die ebene Oberseite des Steins, um dort nach Spuren zu suchen. Das schräg einfallende Sonnenlicht machte die Handscheinwerfer überflüssig.
Marion sprang zu den beiden hinauf. Sie balancierte auf den Zehen und den Fingerspitzen und suchte mit dem Gesicht dicht am Boden.
»Nichts«, sagte sie
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