Ringwelt 09: Ein Geschenk der Erde
waren das doch für merkwürdige Leute. Es war schwer, sie zu verstehen, und das nicht nur wegen ihres Akzents, sondern auch, weil sie teilweise andere Worte für bestimmte Dinge benutzten. Auch ihre Gesichter wirkten fremd: beide hatten breite Nasenflügel und hohe, vorstehende Wangenknochen. Im Gegensatz zu den anderen Menschen, die Matt kannte, wirkten die beiden geradezu zerbrechlich. Sie hatten kaum Muskeln, doch besaßen sie eine derartige Eleganz und Schönheit, daß Matt schon an der Männlichkeit des Mannes zweifelte. Sie bewegten sich, als gehöre ihnen die Welt.
Das verlassene Haus hatte sich als Enttäuschung erwiesen. Matt hatte schon geglaubt, alles wäre verloren, als das Crewpärchen hereingeschlendert war; sie hatten sich umgeschaut, als befänden sie sich in einem Museum. Aber mit etwas Glück würden sie eine Zeit lang oben bleiben.
Leise schlich Matt aus der Dunkelheit des nun türlosen Wandschranks, schnappte sich den Picknickkorb des Pärchens und rannte auf Zehenspitzen zur Tür. Es gab da einen Platz, wo er sich verstecken konnte – einen Platz, an den er schon früher hätte denken sollen.
Mit dem Picknickkorb in der Hand kletterte er über die niedrige Steinmauer. Am Rand der Leere verlief die ein Meter hohe Granitabsperrung. Matt kletterte darüber und setzte sich mit dem Rücken gegen die Mauer; seine Zehen waren nur wenige Zentimeter von dem siebzig Kilometer tiefen Abgrund entfernt. Er öffnete den Picknickkorb.
Der Inhalt reichte für mehr als zwei Personen. Matt aß alles: Eier und Sandwiches, Vanillepudding und Suppe und eine Hand voll Oliven. Anschließend trat er den Korb und die Verpackungsreste über den Rand in die Leere hinab. Er blickte ihnen hinterher.
Matt dachte nach:
Jeder kann die Unendlichkeit sehen, wenn er in einer klaren Nacht nach oben blickt; doch auf der kleinen Welt Mount Lookitthat kann man sie auch sehen, wenn man hinunterschaut.
Nein, das ist nicht wirklich die Unendlichkeit … aber für den Nachthimmel gilt eigentlich genau das gleiche. Man kann ein paar benachbarte Galaxien sehen; aber selbst wenn das Universum begrenzt sein sollte, so sieht man doch nur einen kleinen Teil davon. Und Matt sah ebenfalls eine scheinbare Unendlichkeit, wenn er in die Tiefe blickte.
Er sah, wie der Picknickkorb immer tiefer fiel, wie er kleiner wurde … und verschwand.
Dann war da nur noch der weiße Nebel.
Eines weit entfernten Tages würde man dieses Phänomen die Plateau-Trance nennen. Es war eine Art Autohypnose, die allen Bewohnern der Plateaus wohlvertraut war, egal welcher Klasse sie angehörten. Im Gegensatz zu anderen Arten der Hypnose konnte man allerdings auch zufällig in diesen Zustand geraten. So betrachtet, glich die Plateau-Trance den alten, schlecht dokumentierten Fällen von ›Highway-Hypnose‹ oder dem ›Fernen Blick‹, einer Form der religiösen Trance, wie sie im Sol-Belt üblich war. Der Begriff ›Ferner Blick‹ stammt übrigens von Prospektoren, die zu lange auf einen einzelnen Stern am Firmament gestarrt haben. Die Plateau-Trance beginnt mit einem langen, verträumten Blick in die Nebel der Leere hinab.
Seit gut acht Stunden hatte Matt keine Chance mehr gehabt, sich zu entspannen. Auch heute Nacht würde er keine entsprechende Gelegenheit bekommen; darüber wollte er jetzt jedoch nicht weiter nachdenken. Er sollte besser die Gunst des Augenblicks nutzen. Er entspannte sich. Als er wieder aus der Trance erwachte, nagte die Vermutung an ihm, daß viel Zeit vergangen war. Er lag auf der Seite, hatte den Kopf über den Plateaurand gereckt und starrte in die unendliche Dunkelheit hinab. Es war Nacht geworden, und er fühlte sich wunderbar. Bis er sich erinnerte.
Er stand auf und kletterte vorsichtig wieder über die Mauer. Es wäre nicht gerade gut, so nahe an der Leere auszurutschen oder zu stolpern – und er war oft tolpatschig, wenn er derart nervös war. Er hatte das Gefühl, als hätte man seinen Magen durch ein Plastikmodell aus dem Biologieunterricht ersetzt. Matt bewegte sich ruckartig.
Er entfernte sich ein Stück von der Mauer und blieb stehen. In welcher Richtung lag das Hospital?
Komm schon, dachte er. Das ist doch lächerlich.
Nun, da war dieser Hügel zu seiner Linken, der von einem schwachen Licht umgeben war, das dahinter zu leuchten schien. Dort würde er es versuchen.
Als Matt die Hügelkuppe erreichte, befand sich nur noch Fels unter seinen nackten Füßen: Stein und Staub, der während der dreihundert Jahre langen
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