Ringwelt 12: Weltenwandler
blieb stehen. Er reckte einen seiner Hälse und deutete auf den hellsten Stern am Himmel. »Der Lebensspender. Er hat uns genährt. Und dann, als wir bereit waren, hat er das getan, was ein guter Vater tun muss. Er hat seine Nachkommen, uns, dazu gebracht, die Verantwortung für uns selbst zu übernehmen.«
Lange Zeit schwieg Nessus; er dachte über diese Metapher nach. »Ein gestrenger Vater. Hearth auf seiner natürlichen Umlaufbahn zu lassen, hätte bedeutet, dass alles verbrannt wäre. Es hätte uns ausgelöscht.«
Achilles hob die Köpfe und nahm eine breitbeinige Pose voller Selbstvertrauen ein. »Der einfachste Weg wäre es gewesen, Hearth nur nach und nach zu bewegen, ganz so, wie der Lebensspender sich ausdehnte. Fast ebenso leicht wäre es für uns gewesen, Hearth sofort auf die Umlaufbahn zu bringen, in der er für alle Zeiten hätte verbleiben können, und dann den Planeten mit künstlichen Sonnen zu umgeben. Doch was wurde stattdessen getan?«
»Die Ozeane wurden mit genmanipuliertem Plankton angeimpft, das auch mit Infrarotstrahlung Fotosynthese betreiben konnte«, antwortete sein Schüler. »Als wir den Rand des Sonnensystems erreicht hatten, fernab der Gefahr, verdunkelte sich unser Himmel.«
»Die Herde hat mehr getan, als sich nur vor der Gefahr zurückzuziehen«, betonte Achilles. »Das ist die Geschichte, die man uns nicht gelehrt hat. Unsere Welt war bereits gefährdet, bevor unsere Sonne die ersten Anzeichen der Instabilität gezeigt hat. Hearth schmorte in der Abwärme von einer halben Billion Bewohnern und der zugehörigen Industrie.«
Als sie nun ihren Spaziergang wieder aufnahmen, trat Achilles so dicht an den jungen Kundschafter heran, dass ihre Flanken einander berührten. In den wimmelnden Arcologys und Fußgängerzonen war ein derartiger Kontakt schlichtweg unvermeidbar – er war beruhigend, aber unpersönlich. Doch hier, an diesem leeren Strand, war diese Berührung immens bedeutungsschwanger. »Wir haben uns davon befreit, dass diese Abwärme das Wachstum unserer Bevölkerung einschränkt. Innerhalb nur weniger Generationen hat sich die Anzahl der Bürger verdoppelt.«
In nachdenklichem Schweigen gingen sie weiter. »Das alles hatte Konsequenzen«, sagte Nessus schließlich. »Es heißt, viele hätten den Verstand verloren.«
Für einige stimmte das auch, doch es betraf fast ausschließlich die Reihen der Konservativen. Diese alte Geschichte war für Nessus bedeutender als für die meisten anderen der Rekruten. Achilles hatte sich ausgiebig mit der Personaldatei dieses angehenden Kundschafters befasst; er entstammte einer langen Linie von Konservativen.
»Aber jetzt ist die Welt doch wirklich voll«, fuhr Nessus fort. »Oder etwa nicht?«
Eine Welle brandete gegen einen kleinen Stapel aus Steinen, deren Oberflächen vom Wasser schon völlig geglättet waren. Achilles blickte seinem Schützling tief in die Augen. »Nicht der Meeresgrund. Und mehr als die Hälfte der Oberfläche dieser Welt ist von Wasser bedeckt.«
Von einer Billion Bürgern lebten die weitaus meisten in kistenartigen Wohnungen, die im Inneren gewaltiger Bauten aufeinander gestapelt waren; ihre Atemluft erhielten sie aus den Filtern fest eingebauter Stepperscheiben. Wann immer sie den Himmel sahen, verdankten sie das Holovids – oder sie teleportierten sich eben an einen anderen Ort. Wie würde es ihr Leben verändern, wenn diese Kisten zukünftig auf dem Meeresgrund aufgestellt würden?
Jetzt erläuterte Achilles seine ganze Vision: der Grund des Ozeans, vollständig bedeckt mit Arcologys aus dem unzerstörbaren Material der GP-Zellen. Dann würde Hearth gewiss noch zwei weiteren Billionen Bürgern Platz bieten – vielleicht sogar drei Billionen!
Ganz in der Nähe warteten weitere seiner Schüler, die er alle schon zu einem früheren Zeitpunkt angeworben hatte. Nach und nach hatte Achilles seine Vorgehensweise optimiert. Erst die Annäherungsphase: dafür musste er einen Schützling, dem sehr daran gelegen war, einen guten Eindruck zu erwecken, mit seinem Charisma regelrecht überwältigen. Normalerweise reichte dafür alleine schon das individuelle Interesse eines hochstehenden Mitglieds der Akademie völlig aus. Dann die herzliche Begrüßung durch einige von Seinesgleichen. Und schließlich kam noch die Zusammenstellung der Gruppe. Dadurch wurde der betreffende Rekrut – ein einsamer Außenseiter, so wie jeder angehende Kundschafter – fest auf Achilles’ wachsende Sekte eingeschworen.
Vorsichtig
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