Ripley Under Water
hatten, kannte Tom: gardons, eine Rotaugenart, und chevesnes, ebenfalls Speisefische aus der Familie der Karpfen. Nein, Pritchard fischte nicht nach solchen silbrigen Kreaturen und auch nicht nach alten Fahrrädern.
»Et Madame Héloïse? Toujours en vacances?« fragte Marie – wirres dunkles Haar, wirrer Blick aus dunklen Augen, wie gewöhnlich. Automatisch wischte sie die Holzplatte der Theke mit einem feuchten Tuch ab.
»Hm, ja.« Tom zückte die Brieftasche, er wollte zahlen. »Marokkos Zauber, wissen Sie.«
» Le Maroc! Oh, wie schön! Ich habe Fotos gesehen!«
Genau das gleiche hatte sie vor mehreren Tagen gesagt, erinnerte sich Tom, aber Marie hatte viel zu tun, mußte sie doch täglich zu rund hundert Gästen freundlich sein, und zwar morgens, mittags und abends. Bevor er ging, kaufte Tom noch eine Schachtel Marlboro. Als könnten die Zigaretten Héloïse rascher zu ihm zurückbringen.
In Belle Ombre wählte er die Farbtuben, die er für die Arbeit morgen brauchen würde, und spannte die Leinwand auf die Staffelei. Er dachte über das geplante Bild nach: dunkel, ausdrucksstark, im Mittelpunkt eine noch dunklere Fläche im Bildhintergrund, die unbestimmt bleiben sollte, wie ein kleiner lichtloser Raum. Er zeichnete mehrere Entwürfe. Morgen würde er anfangen – Bleistiftstriche auf weißer Leinwand. Aber nicht mehr heute abend. Er wurde langsam müde und fürchtete zu versagen, zu schmieren, es einfach nicht gut genug hinzubekommen.
Um elf hatte das Telefon noch nicht geklingelt. In London war es zehn; seine Freunde dachten womöglich, keine Nachrichten seien gute Nachrichten. Und Cynthia? Höchstwahrscheinlich las sie gerade ein Buch, beinah selbstgefällig überzeugt von Toms Schuld an Murchisons Tod (sicher hatte sie auch von Dickie Greenleafs zweifelhafter Methode gehört, aus dem Diesseits zu scheiden), und in der Gewißheit, daß zu guter Letzt das Schicksal siegen und Toms Leben seinen Stempel aufdrücken werde – was immer das heißen mochte. Ihn vernichten, vielleicht.
Apropos Bücher. Tom war froh, Richard Ellmanns Biographie von Oscar Wilde als Bettlektüre für die Nacht zu haben. Er genoß jeden Absatz. Da war etwas an Wildes Leben, das beim Lesen wie eine Läuterung wirkte – des Menschen Schicksal in nuce: Ein Mann mit Talent und gutem Willen, der den Menschen erstaunlich viel Freude schenkte, war von dem rachsüchtigen Pöbel verfolgt und zur Strecke gebracht worden, und diese hoi polloi hatten sadistische Freude daran gefunden, Oscar am Boden zu sehen. Seine Geschichte erinnerte Tom an Christus, einen hochherzigen gutwilligen Menschen mit einer Vision, das Bewußtsein zu erweitern, die Lebensfreude zu vermehren. Beide wurden von ihren Zeitgenossen mißverstanden, beide hatten unter der tief verborgenen Eifersucht derjenigen zu leiden, die ihnen den Tod wünschten und sie verhöhnten, solange sie lebten. Kein Wunder, daß die unterschiedlichsten Menschen jeden Alters immer noch Bücher über Oscar lasen und vielleicht gar nicht merkten, warum er sie so faszinierte.
Noch während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, schlug er die Seite um und las über Rennell Rodds ersten erschienenen Lyrikband. Ein Exemplar hatte er seinem Freund Oscar geschenkt, mit einer handschriftlichen Widmung auf italienisch (seltsamerweise, wie angemerkt war), die übersetzt lautete:
Bei deinem Märtyrertod wird die gierige grausame
Menge, zu der du sprichst, sich versammeln;
Alle werden sie kommen, dich am Kreuz zu sehen,
Und nicht einer wird sich deiner erbarmen.
Das war nun allerdings seltsam, dachte Tom, ja prophetisch. Konnte es sein, daß er diese Zeilen früher schon irgendwo gelesen hatte? Aber das glaubte er nicht.
Beim Lesen stellte Tom sich Oscars Begeisterung vor, als der erfuhr, daß er den Newdigate-Lyrikpreis gewonnen hatte – nachdem er kurz zuvor in Oxford zwangsexmatrikuliert worden war. Dann aber mußte Tom, obwohl er gemütlich im Bett lag, den Kopf in die Kissen gestützt, und sich auf die nächsten Seiten freute, an Pritchard und sein verdammtes Boot mit dem Außenborder denken. Und an Pritchards Helfer.
»Verflucht«, murmelte er und stand auf. Er wollte etwas über die Umgebung herausbekommen, über die Wasserwege in der Gegend, und wenn er auch schon mehr als einen Blick auf die Karte seiner Region geworfen hatte, drängte es ihn, noch einmal nachzusehen.
Tom schlug seinen großen Times -Atlas auf (The Concise Atlas of the World): Was Flüsse und Kanäle anging,
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