Riskante Versuchung
Mit seinen hellgrauen Augen schien er direkt in Robs Seele blicken zu können. „Im Angebot ist heute Abend eine Erdbeermargarita. Das ist ein Cocktail ähnlich dem Daiquiri, nur mit Tequila statt Rum …“
Rob winkte ab und verließ den Tresen. Er musste raus aus diesem Club.
Und dann stand Jess auf einmal vor ihm, mit der Gitarre in der Hand. Er hatte ihr aus Versehen den Weg verstellt.
„Verzeihung“, sagte sie leise.
Er sollte sofort von hier verschwinden. Er sollte Jess vorbeilassen. Doch er rührte sich nicht von der Stelle. „Was hast du gemacht? Frank zu einem kleinen Imbiss vom Chinesen eingeladen?“, sagte er in harschem Ton, der ihn selbst ein wenig erstaunte. Jess musste sich zu ihm herüberbeugen, um ihn in dem Lärm, den die Menge veranstaltete, verstehen zu können. „Hast du ihn zum Essen zu dir eingeladen und auf eine Partie Monopoly? Und was habt ihr gemacht, nachdem du Kelsey ins Bett gebracht hast? Habt ihr …“ Er benutzte einen so groben Ausdruck, dass Jess erschrocken zurückwich, so als hätte er ihr ins Gesicht geschlagen.
„Wie kannst du es wagen …“ Ihre Stimme war nur ein Flüstern. Sie wirkte entsetzt, und in ihren Augen schimmerten Tränen.
„Frank wusste wahrscheinlich gar nicht, wie ihm geschah“, setzte Rob nach. „Ian hatte die ganze Zeit recht, wie?“
„Gibt es hier ein Problem?“, mischte sich der Barkeeper ein.
„Nein“, antwortete Jess und schob sich hoch erhobenen Hauptes an Rob vorbei, ehe sie zum Ausgang rannte.
Irgendwie schaffte sie es, sich zusammenzureißen, bis sie auf dem Parkplatz war und ihren Wagen aufgeschlossen hatte. Sie legte ihre Gitarre auf den Beifahrersitz und stieg ein.
Wie konnte Rob nur so etwas zu ihr sagen? Wie konnte er sie auf diese Weise ansehen, als wäre sie ein widerliches Insekt, das er unter einem Stein entdeckt hatte? Wie konnte er sie nur dermaßen kalt ansehen?
Nun konnte sie die Tränen nicht länger zurückhalten, und sie liefen ihr in Strömen über das Gesicht. Als sie den Motor startete, konnte sie kaum noch etwas sehen.
Wie hatte sie sich so sehr in ihm täuschen können? Laut schluchzend fuhr sie vom Parkplatz und machte sich auf den Weg zum Babysitter. Während der ganzen Fahrt musste sie sich immer wieder die Augen wischen, um überhaupt etwas erkennen zu können.
Hatte sie sich in einen Menschen verliebt, den es gar nicht gab? Hatte sie diese grausame, kalte, wütende Person irrtümlich für einen netten, freundlichen, sanften Mann gehalten? Hatte sie Robs bisheriges Verhalten ganz falsch gedeutet, seine vermeintliche Schüchternheit und Nachdenklichkeit? War seine stille Art nichts weiter als eine Fassade, hinter der sich Zorn und Feindseligkeit verbargen? Rob hatte so wenig über sich preisgegeben. War sie der Versuchung erlegen, sich den perfekten Mann zurechtzufantasieren, von dem sie schon so viele Jahre hindurch geträumt hatte?
Erneut schluchzte Jess auf und musste am Straßenrand halten, weil sie von Weinkrämpfen geschüttelt wurde.
Es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder im Griff hatte. Sie atmete tief durch und langte unter den Sitz, wo sie für gewöhnlich eine Packung Kosmetiktücher aufbewahrte. Nachdem sie sie gefunden hatte, schnäuzte sie sich geräuschvoll.
Schnell schaltete sie die Innenbeleuchtung ein, betrachtete sich im Rückspiegel und verzog das Gesicht. Sie wollte zu Hause anhalten und sich das Gesicht mit kaltem Wasser waschen, ehe sie Kelsey bei Doris abholte. Andererseits war es schon ziemlich spät. Je später sie Kelsey abholte, desto weniger würde ihr von der Gage des heutigen Auftritts bleiben.
Seufzend trat sie die Kupplung durch und hörte zu ihrem Entsetzen ein nur allzu vertraut klingendes Knallen. Das Pedal ließ sich ohne den geringsten Widerstand bis zum Boden durchtreten.
Die Kupplung war wieder einmal kaputt.
Jess legte den Kopf aufs Lenkrad, halb überrascht, dass sie nicht wieder in Tränen ausbrach. Aber natürlich würde sie nicht weinen. Die Tränen waren ihr inzwischen ausgegangen. Sie hatte sie alle für Rob aufgebraucht.
Verzweifelt hob sie den Kopf und schaute sich um, auf der Suche nach einem Hinweis darauf, wo sie sich eigentlich befand. Sie war auf Nebenstrecken gefahren, um schnellstmöglich nach Hause und zu Doris zu kommen. In dieser Straße gab es jedenfalls keine Läden und auch keine Tankstellen. Links von ihr erstreckte sich eine wer weiß wie viele Hektar große Orangenplantage. Und die kleinen Häuser auf der rechten
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