Riskante Versuchung
betrat das Haus.
In der beginnenden Abenddämmerung herrschte eine beinah unheimliche Stille. Sie hörte die Küchenuhr, das Ticken des Sekundenzeigers.
Ian war der Mörder. Er musste es sein.
Nicht Rob.
Trotzdem ließ sie die Küchentür offen.
Parker Elliot wollte auf dem Rückweg von Ian vorbeikommen, nachdem er sich dessen kranke Idee einer Tapete angesehen hatte. In der Zwischenzeit beendeten mehrere FBI-Agenten ihre Arbeit in Robs Apartment. Sollte Jess schreien, würde sie sofort jemand hören.
Aber das war lächerlich. Sie würde keinen Grund haben, zu schreien. Rob war nicht der Täter, sondern Ian.
Parker Elliot war jedoch nach wie vor davon überzeugt, dass Rob der Killer war.
Rob.
Sie kannte nicht einmal seinen richtigen Namen.
Mit pochendem Herzen ging sie durch ihre Wohnung und öffnete die Tür zu ihrem Schlafzimmer.
Da die Jalousien heruntergezogen waren, war es hier dunkler als in den anderen Räumen. Sie wartete, bis ihre Augen sich an die schlechten Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, und entdeckte Rob auf ihrem Bett. Er lag auf dem Rücken, den einen Arm über die Stirn gelegt, die Beine in die Decke gewickelt.
Er atmete langsam und gleichmäßig, und sein Gesicht war entspannt.
Er wirkte so jung, so unschuldig, selbst mit den Tätowierungen auf dem Arm. Vielleicht gerade wegen der Tattoos …
Er konnte kein Mörder sein.
Sie schlich an ihm vorbei ins Badezimmer, wo seine Kleidungsstücke auf dem Fußboden lagen.
Seine Jeans war hart von getrocknetem Blut, und seine Socken und Unterwäsche waren dreckig. Leise trug sie die Sachen in den Hauswirtschaftsraum neben der Küche und warf alles in die Waschmaschine. Die Zeit reichte nicht, um die Sachen separat zu waschen.
Zurück in der Küche, wusch sie sich die Hände, nahm das Telefon und wählte schnell Doris‘ Nummer.
„Hallo, ich bin‘s“, meldete sich Jess. „Tut mir leid, dass ich so spät noch anrufe. Wie geht es Kelsey?“
„Gut. Sie bringt meiner Zweijährigen bei, wie man Bilder ausmalt. Die zwei haben Spaß, und ich konnte sogar ein bisschen Hausarbeit machen“, berichtete Doris.
„Ich muss dich um einen riesigen Gefallen bitten“, sagte Jess.
Doris lachte. „Wie groß?“
„Na ja …“
„Wie lange soll sie bleiben?“, fragte Doris, um es ihr leichter zu machen. „Später als elf geht nicht, weil ich morgen eine Klasse in der Ringling Kunstschule unterrichte.“
„Elf, das schaffe ich“, versprach Jess und schaute zur Uhr. Jetzt war es halb sieben. „Wahrscheinlich wird es halb zehn oder zehn.“
„Du hast Glück, denn sie ist wirklich ein Schatz.“
„Ich weiß. Danke, Doris. Du bist auch ein Schatz.“
Jess legte auf, holte ihren großen Spaghettitopf aus dem Schrank und ließ Wasser hineinlaufen.
Sie war nicht hungrig, im Gegenteil, ihr Magen fühlte sich vor Angst wie zugeschnürt an. Aber Rob sollte wenigstens etwas Vernünftiges essen, bevor sie …
… ihn hinauswarf.
Sie schloss die Augen und fühlte sich noch elender. Genau das würde sie nämlich tun: ihn hinauswerfen, zu einem Zeitpunkt, an dem er sie am nötigsten brauchte.
Aber er konnte nicht hierbleiben. Nicht wenn Kelsey auch hier war.
Nein, er war nicht der Killer.
Davon war sie zutiefst überzeugt.
Doch was, wenn sie sich irrte? Nur mal angenommen?
Sie kannte ja nicht einmal seinen richtigen Namen.
Ihr eigenes Leben aufs Spiel zu setzen war eine Sache. Das ihrer Tochter aber würde sie nicht riskieren.
Also würde sie Rob etwas zu essen machen, seine Kleidung reinigen und ihn anschließend zum Strandhaus fahren. Dort konnte er zumindest für ein paar Tage bleiben, bis sein Knöchel wieder so weit in Ordnung war, dass er zu gehen imstande war.
Sie stellte den Topf mit Wasser auf den Herd, drehte das Gas auf und nahm Soße sowie frisches Gemüse aus dem Kühlschrank.
Dann schaltete sie das Radio ein und wählte einen Countrysender. Sie drehte die Lautstärke herunter, damit Rob nicht aufwachte, und fing an, das Gemüse zu schneiden. Sommerkürbis, Blumenkohl, Brokkoli, grüne Bohnen, Zuckerschoten. Sie ließ sich Zeit dabei, aus Furcht, sich zu schneiden und beim Anblick ihres Blutes die Nerven zu verlieren. Als sie fertig war, warf sie alles in einen weiteren Kochtopf und stellte ihn auf mittlere Hitze.
Während das Nudelwasser anfing zu kochen, hörte sie, dass der Schleudergang der Waschmaschine zu Ende ging. Jess schüttete fast eine ganze Tüte Muschelnudeln in den Topf, rührte einmal um und ging in den
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