Ritter 01 - Die Rache des Ritters
dass sie einfach nur wegen ihrer verletzten Gefühle hatte davonlaufen wollen. Aber dahinter steckte mehr als nur das, und aus einem unerklärlichen Grund fühlte Raina, dass sie die ganze hässliche Wahrheit mit Gunnar teilen konnte. »Ich dachte, sie wäre glücklicher, wenn es mich nicht gäbe.«
»Deine Mutter?«
Raina nickte. »Sie muss einmal glücklich gewesen sein, lange bevor ich mich an sie erinnern kann. Mein Vater sagte immer, sie sei das schönste Mädchen ganz Englands gewesen, als sie sich begegneten, aber irgendetwas muss ihr widerfahren sein. Etwas muss sie verändert haben. Vielleicht war meine Geburt auf gewisse Weise eine Enttäuschung für sie.« Diesen letzten Gedanken konnte sie nur flüsternd aussprechen, denn er beschämte und verletzte sie zu sehr.
Gunnars ungläubiger Ausruf ließ sie aufschauen. »Das kannst du doch nicht ernsthaft meinen.« Als sie ihn nur anblinzelte, lachte er mitfühlend. »Raina, ich weiß nicht, was hinter verschlossenen Türen auf Norworth vor sich gegangen ist, aber ich kann dir sagen, dass deine Geburt keine Enttäuschung für deine Mutter war.«
Sie berührte sanft seine Wange, dankbar, dass er sie zu trösten versuchte, nach allem, was ihre Familie ihm angetan hatte. »Danke, dass du das sagst, aber du kannst nicht wissen – «
»Ich weiß es«, beharrte er, »weil ich sie einmal mit dir gesehen habe.«
Raina befreite sich aus seiner Umarmung und sah ihn verblüfft an. »Wann? Und wo?«
»Es war während eines Festes auf Norworth, als ich vielleicht sechs Jahre alt war. Du warst noch ein Säugling von kaum einem Jahr, schätze ich.«
Sie konnte es kaum glauben. »Du warst in Norworth? Du erinnerst dich, mich mit meiner Mutter gesehen zu haben?«
»Aye, obwohl ich gestehen muss, dass ich als kleiner Junge nicht viel für Säuglinge übrig hatte. Bei schönen Frauen war das allerdings etwas ganz anderes. Und deine Mutter war wunderschön.« Er lächelte Raina bewundernd an. »Aber selbst sie verblasst neben dir.«
Raina ließ sich von ihm küssen, doch die Ungeduld, mehr zu hören, ließ sie den Kuss nach kurzer Zeit beenden. »Du musst mir alles sagen, an das du dich erinnern kannst!«
»Ich fürchte, viel mehr gibt es nicht zu erzählen. Einige von uns Jungen haben nach dem Essen in den Gärten Verstecken gespielt. In einem abgelegenen Teil des Gartens hörte ich plötzlich eine Frauenstimme, die Psalme rezitierte. Sie klang sehr süß und sanft.«
»Meine Mutter.« Raina wusste es, ohne zu fragen.
»Ich kroch um einen Rosenbusch herum und sah sie auf einer Bank sitzen. Sie gab dir die Brust, und auf ihrem Schoß lag aufgeschlagen eine Bibel. Sie las leise daraus vor; ihr beide wart ein Bild des Glücks. Das Bild hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Es war der aufrichtigste Ausdruck von Liebe, den ich je gesehen habe. Ich hab dort gestanden, habe zugehört und zugeschaut, bis einer meiner Freunde mich entdeckte und mich mit sich zu den anderen zog.« Er verstummte plötzlich. »Warum weinst du?«
»Seit sie gestorben ist, wollte ich diese Bibel schon so oft aus dem Regal nehmen und darin lesen, weil ich dachte, ich könnte dann wieder ihre Stimme hören. Und ihre Arme um mich fühlen. Ich habe bis jetzt immer geglaubt, es wäre nur Einbildung gewesen. Ein Traum.«
»Nein, es war kein Traum«, sagte er und strich ihr über das Haar.
Obwohl diese neue Wissen Raina das Herz leichter machte, tauchte aus einer dunklen Ecke ihres Bewusstseins ein bedrückender Gedanke auf. Welche Art von Albtraum hatte ihre Mutter in das traurige Geschöpf verwandeln können, an das sie sich erinnerte? Was hatte sie so viele Jahre lang wie eine Gefangene an ihr Zimmer gefesselt? Raina spürte, dass eine Erklärung in ihrem Kopf Gestalt annehmen wollte, und drängte sie zurück. Es war zu schrecklich, darüber nachzudenken.
Gunnar hob ihr Kinn und wischte eine verirrte Träne von ihrer Wange. »Die Sonne geht fast schon unter, und du hast noch nicht gesagt, welche Belohnung du für unseren Wettkampf haben möchtest«, erinnerte er sie und führte sie sanft zu weniger belastenden Dingen. »Was verlangt Ihr als Belohnung, Mylady?«
Raina hätte fast die Antwort ausgesprochen, die ihr auf der Zunge lag. Sie wollte sein Herz, seine Liebe. Aber darum konnte sie ihn nicht bitten. Sie würde es nicht ertragen können, von ihm zurückgewiesen zu werden. Stattdessen sagte sie: »Du hast diesen Tag mit mir verbracht und mir eine kostbare Erinnerung an meine Mutter
Weitere Kostenlose Bücher