Ritter 01 - Die Rache des Ritters
gewiss niemals gestattet hätte. Dann atmete er tief ihren Duft ein und schloss die Augen, um sich gegen ihre Weichheit zu wappnen. Und er sagte sich, dass ihre starke Wirkung auf ihn in der einfachen Tatsache begründet lag, dass er eine Frau brauchte.
Dringend.
Die Ruine von Wynbrooke Castle lag eingehüllt in der tintenschwarzen Finsternis der Mitternacht, als sie sich ihr und dem wie ausgestorben wirkenden Dorf näherten, aber offensichtlich genügte der Anblick, um Raina den Atem stocken zu lassen. Gunnar hatte schon vor einiger Zeit gespürt, dass sie aufgewacht war, auch wenn sie bis jetzt keine Veranlassung gesehen hatte, etwas zu sagen.
»Wo sind wir?« Ihre Stimme klang dünn und verriet ihre Anspannung.
Gunnar wusste, dass die Ruine auch in der Dunkelheit ein gespenstischer, Respekt einflößender Anblick war, auch wenn es lange her war, seit Wynbrooke seinen Atem hatte stocken lassen.
Er hätte Beklommenheit, vielleicht auch einige Furcht dabei empfinden müssen, als er das sah, was von seinem Zuhause übrig geblieben war. Er hatte diesen Ort oft aufgesucht, um sich immer wieder daran zu erinnern, warum er lebte, was sein Zweck auf dieser Erde war. Unzählige Male war er hergekommen und hatte aus den Schatten des Waldes auf den Schutt und die Schändung gestarrt – ein stummer, nachdenklicher Betrachter, der sich niemals dem Wohnturm genähert hatte, der niemals seine Anwesenheit der Handvoll Menschen verraten hatte, die im Dorf geblieben waren.
Aber seit einigen Jahren traf Gunnar der Anblick Wynbrookes nicht mehr so sehr. Er rührte ihn nicht mehr. Wie die Jahre, in denen er Schlachten geschlagen und dem Tod ins Auge geblickt hatte, hatte auch dieser Anblick nicht mehr die Macht, ihn zu beunruhigen.
Als Raina jetzt fragte: »Was für ein Ort ist dies?«, antwortete er deshalb ohne Anflug eines Gefühls: »Es ist das Werk Eures Vaters.«
Auf seinen Schnalzlaut hin setzte sein Pferd sich wieder in Bewegung, und er führte seine Männer weiter und umging dabei absichtlich die kleine Ansammlung heruntergekommener Lehmhütten, die das Dorf bildeten. Sie ritten den Burghügel hinauf und durch das offene Tor der eingefallenen Festungsmauer.
Wynbrooke war eine bescheidene Burg und verfügte nur über einen Hof, ein weites, grasbewachsenes Areal, auf dem Gunnar als Junge die Hühner und später die kleinen gleichaltrigen Mädchen herumgescheucht hatte. Ein kleiner Stall hatte auf einer Seite des Hofes gestanden, wie Gunnar sich erinnerte; alles, was jetzt noch darauf hinwies, waren einige verkohlte Holzbalken und rußgeschwärzte Steine. Die Stallungen waren verschwunden; die große Halle war nichts als Schutt und Steine – alles war in sich zusammengefallen oder verbrannt. Nur der Turm war stehen geblieben. Der Ort, den Gunnar einst sein Zuhause genannt hatte, ähnelte einer verlassenen und einsam aufragenden Säule aus massivem grauem Stein.
Als er im Schatten dieses finsteren Mahnmales stand, fühlte er Raina in seinen Armen zittern und hörte vage, dass seine Männer leise darüber murrten, in einem Grab schlafen zu müssen. Für einen Moment spürte er einen Schauder seinen Rücken hinunterlaufen. Es ist nur die kühle Nachtluft, sagte Gunnar sich und stieg vom Pferd. Er wandte sich um und hob Raina in seine Arme, stellte sie auf den Boden und löste dann eine zusammengerollte, an den Sattel gebundene Decke und reichte sie ihr.
»Bindet die Pferde für die Nacht irgendwo an und sucht euch dann einen Platz zum Schlafen«, wies er seine Männer an, während er Rainas Hand nahm und sie mit sich zog, als er auf den Turm zuging.
»Ihr wollt doch wohl nicht in dieser Ruine schlafen.« Ihre Stimme klang flehend, als sie ihm folgte, kaum in der Lage, mit seinen großen Schritten mitzuhalten.
»Ihr seid hier sicher.« Er griff nach dem eisernen Riegel an der Tür und bemerkte, dass die breite Tür aus Eichenholz sich aus ihren Angeln gelöst hatte. Die Finsternis, die ihm vom oberen Treppenabsatz entgegenschlug, kam wie aus einem schwarz gähnenden Portal zu einem feuchten und moderigen Raum.
Eine Fledermaus flüchtete, als sie über die Schwelle traten, flatterte über ihre Köpfe hinaus in die Nacht. Eine zweite folgte rasch. Rainas erschrockener Aufschrei hallte in dem höhlenartigen Zimmer wider, und sie barg das Gesicht an Gunnars Arm, bis die kleinen Wesen davongeflogen waren.
»Kommt«, befahl Gunnar leise und führte sie weiter, nutzte dabei einen dünnen Strahl silbrigen Mondlichts, der
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