Ritualmord
Haar rings um das kleine, sonnengebräunte Gesicht war wild hochgesteckt; sie stand breitbeinig da, um im schaukelnden Boot die Balance zu halten. Sie schaute nicht in den Hafen hinaus, in den Bereich, wo sie heute Morgen tauchen würden, sondern in die andere Richtung, zurück zum Kai – dorthin, wo der Ponton ein Stück weit unter seinen Füßen an die Mauer stieß. Es handelte sich genau um die Stelle, die ihm die Kellnerin gezeigt hatte, als sie ihm von dem merkwürdigen Geschöpf erzählte, das aus dem Wasser gekommen war.
Es dauerte eine Weile, bis jemand ihren Gesichtsausdruck bemerkte; dann blickte PC Dundas, der eben den Motor anwerfen wollte, sie an und sah, dass etwas nicht stimmte. Er ließ die Ruderpinne los. »Sarge?«
»Ja… Moment.« Sie hob die Hand. »Moment noch.«
Sie starrte die Hafenmauer an, als bemühte sie sich angestrengt, sich an etwas zu erinnern, das sich immer wieder
entzog. Caffery musste an eine Passage aus einer Infobroschüre für Touristen denken: Der Hafen und der Cut – der Kanal, durch den der Avon hier geleitet wurde – waren von Gefangenen aus den napoleonischen Kriegen gebaut worden, und es gab sie immer noch, fast zweihundert Jahre später, bemoost, schleimig und schwarz vom Maschinenöl und der Verschmutzung der Jahrzehnte. Auf ihn wirkten sie fremd und unheimlich wie ein Verlies, aber Flea musste sie in- und auswendig kennen, und deshalb ergab ihr plötzliches Interesse keinen Sinn.
»Sarge?«, fragte Dundas stirnrunzelnd. »Sarge? Alles okay?«
Sie drehte sich nicht um, sondern sah zu Caffery hinauf. »Es hat gestern Morgen geregnet«, sagte sie. »Nicht wahr?«
Er nahm sich rasch zusammen; auf ihren direkten Blick war er nicht gefasst gewesen. Die Ellbogen auf das Geländer gestützt beugte er sich zu ihr hinunter. »Ja. Ja, es hat geregnet. Warum?«
Sie starrte ihn weiter an, beinahe ausdruckslos, als versuchte sie immer noch, einen Gedanken aus einer entlegenen Ecke ihres Kopfes herauszulösen. Dann ließ ein vorüberfahrendes Schiff eine Welle heranrollen, die das kleine Boot fast zum Kentern brachte, und ihre Konzentration war dahin. Sie schüttelte den Kopf, schloss den Tauchanzug ganz und legte die Gurte und Flossen an. »Komm!«, rief sie Dundas zu und gab ihm das Zeichen zum Starten des Motors. »Fangen wir an.«
Caffery verfolgte, wie das Boot ablegte. Im schmutzigen Wasser hinterließ es eine schaumige Spur. Flea beugte sich über ihr Atemgerät, klopfte auf die Anzeigen und hakte die Signalleine an ihren Gurt. In gewisser Hinsicht war er froh, sie abfahren zu sehen. Sie hatte eine Art, ihn anzublicken, als würde sie alle seine Geheimnisse kennen – nicht nur die alltäglichen, sondern auch die schmutzigen. Als wüsste sie, wohin er gefahren war, nachdem er den Hafen am Abend zuvor ver-
lassen hatte. Er konnte nicht mehr sagen, woher der schlechte Geschmack in seinem Mund kam: von der Flasche Wein, die er getrunken hatte, oder von der Erinnerung an das, was er da auf dem Rücksitz seines Wagens getrieben hatte, in der Gasse neben den Müllcontainern.
Er wartete, bis das Boot um die Ecke verschwunden war, und trank dann seinen Kaffee aus – die dritte Tasse, denn was auch passierte, er konnte nicht zulassen, dass ein Kater ihm den Tag verdarb. Die Untersuchungsergebnisse zu den Fingerabdrücken der Hand waren noch nicht da. Der IDENTl-Computer arbeitete nicht so schlecht wie das alte NAFIS-System, aber er war langsam, und über Nacht hatte er nur einen der fünf für einen Vergleich benötigten Abdrucke zutage gefördert. Doch der Autopsiebericht war fertig und seine Lektüre beunruhigend. Die Pathologin hatte ein paar blauviolette Fasern von der Hand gesichert und ins Labor der Zentrale geschickt; sie war ebenfalls der Ansicht gewesen, dass die Spuren am Knochen von einer Säge stammten. Außerdem, sagte sie, sei die Hand wahrscheinlich abgetrennt worden, als das Opfer noch lebte.
Das alles hatte die Wut des Superintendent auf Caffery ein wenig gemildert. Er hatte dem Fall eine Prioritätsstufe eingeräumt, und das Dezernat für Schwerstkriminalität hatte ein dreiköpfiges Computerteam für die Einsatzzentrale in Kingswood entsandt, außerdem zwei Detective Corporals, einen Detective Sergeant und einen zivilen Ermittler – einen pensionierten Polizisten –, dazu noch einen Kriminaltechniker und einen Kontaktbereichsbeamten. Anständiges Personal zu haben, besserte Cafferys Stimmung: Weitere vier Mann sollten um acht Uhr am Kai
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