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Ritualmord

Titel: Ritualmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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klopfte mit dem Finger auf den Plan, auf das Ende der Abflussleitung. »Sieht nur so aus, weil sie in diese Richtung führt.«
    »Wir sind dran!«, schrie einer der Männer im Schlauchboot. »Wir haben’s gefunden.« Caffery und Flea blickten auf. Der Arbeiter mit dem Ohrring hielt den Druckschlauch mit beiden Händen hoch über seinen Kopf. Er kniff die Augen zusammen und wandte das Gesicht von dem Wasser ab, das herausspritzte und alles durchnässte. »Wir haben’s.«
    »Was haben Sie?« Caffery trat näher und schrie über das Rauschen des Wassers hinweg. »Wissen Sie, was es ist?«
    »Kann ich noch nicht sagen«, rief der Mann zurück. »Ist weit oben – mindestens zehn Meter. Wir müssen reingucken.«
    Caffery verfolgte, wie Dundas die Abflusskamera des Suchteams einsatzbereit machte: eine gyroskopisch montierte Kamera 
    auf einer fahrbaren Sonde. Sie war durch ein fünfzig Meter langes Kabel mit einem tragbaren Monitor in einem wasserdichten gelben Gehäuse verbunden, und als die Entsorgungstechniker ihr Schlauchboot aus dem Weg gesteuert hatten und das Boot des Taucherteams in Position war, machte Flea sich daran, den Kamerakopf vorsichtig in die Abflussöffnung zu schieben.
    Sie schaltete die Fernsteuerung ein, und die fahrbare Kamera rollte los und begann ihre weite Reise durch das Abflussrohr. Es war still; alle beobachteten den Monitor, und man hörte nur das Quietschen des Kabels, das sich langsam von der Trommel spulte. Die Kamera war mit zwei Leuchten ausgestattet und lieferte ein farbiges Bild von einer gespenstischen, gewundenen Fahrt unter die Erde, vorbei an herabhängenden Wurzelknoten und durch blendend weißes Sonnenlicht, das von oben durch ein Kanalgitter fiel. Wasser schwappte über die Linse. Im Bahndamm hinter Cafferys Haus hatte es Abflussleitungen gegeben, in denen die Polizei nach Ewans Leichnam suchte, und Caffery hatte bis heute Probleme mit Abwasserrohren.
    »Guck dir das an«, brummte einer der Arbeiter. »Das verdammte Ding ist völlig im Arsch. Radialrisse überall.«
    Flea arbeitete langsam, und ihr Blick ging zwischen dem Rohrleitungsplan, dem Monitor und der Abflussöffnung hin und her. »Das sind fünf Meter.« Sie schaute auf die Anzeige auf dem Bildschirm. »Was haben Sie gesagt? Sie haben bei zehn Metern was gefunden?«
    »Zehneinhalb.«
    Sie schwiegen wieder. Das Team starrte wie gebannt auf den Monitor und rechnete jeden Augenblick damit, dass die Kamera um eine Ecke bog und ein Bild erfasste. Vielleicht erwartete jeder etwas anderes – für Caffery waren es Augen. Seine ganze Kindheit hindurch hatte er nachts wach gelegen und an die Bahngleise gedacht, die vor seinem Fenster vorbeiführten, und er hatte sich gefragt, wo Penderecki seinen Bruder ver- 
    scharrt haben mochte. Er stellte sich immer vor, dass Ewan mit nach oben gewandtem Gesicht auf dem Rücken lag, und so erwartete er auch jetzt, dass die Augen als Erstes in der Dunkelheit auftauchen würden, mit flacher, eingetrockneter Hornhaut, die kaum das Licht reflektierte.
    »Neun«, murmelte Flea. »Neuneinhalb. Zehn. Zehnein…«
    Sie hielt die Kamerasonde an. Ein Bild füllte den Monitor aus. Alle drängten heran und hielten den Atem an.
    »Was ist das?«, fragte Caffery leise.
    Es war nicht der verrenkte Körperteil, an den alle dachten. Es dauerte einen Moment, bis sie erkannten, was es stattdessen war: eine Ansammlung von Steinen, Schlick, Wurzelwerk und Erde.
    »Das ist die Verstopfung«, sagte Flea.
    »Sieht aus wie ein Einbruch«, erklärte einer der Abflusstechniker. »Das Rohr ist gebrochen.«
    »Kommen Sie daran vorbei?«
    »Ich glaube schon«, erwiderte Flea und hantierte mit der Steuerung. Auf dem Bildschirm sah man, wie der Kamerakopf auf das Gestein zufuhr, daran hochkletterte und zurückfiel. »Wenn ich nur…« Sie unternahm drei vergebliche Versuche. Erst beim vierten erklomm die kleine ferngesteuerte Kamera den Einbruch und rollte auf der anderen Seite in stehendes Wasser hinunter. Unter Wasser wirkte das Bild verschwommen, und die Leuchten erfassten wirbelndes Sediment. Es ging weiter; Flea hielt immer wieder an, um jede Auffälligkeit zu inspizieren, und schwenkte den Kamerakopf über jeden Spalt, jede Unebenheit. Nach etwa fünf Minuten kam sie vor einer kahlen Wand zum Stehen.
    »Was ist das?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Das Ende?«, vermutete sie, und dann, ein bisschen überrascht: »Da ist nichts.«
    Ein kurzes, enttäuschtes Schweigen trat ein. Flea ließ die Kamera dicht an die Wand

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