Ritualmord
hinter ihm verschließt das Gitter, aber Skinny steht allein im Raum. Seine Augen leuchten, er lächelt nicht, aber er hat auch nicht mehr diesen traurigen Gesichtsausdruck. Der andere geht durch den kleinen Gang davon, und Skinny kommt herüber und kniet sich auf das Sofa.
»Was?«, zischt Mossy. »Was ist denn?«
»Hast du einen Freund?«
»Einen Freund?«
»Jemanden, der auch Geld braucht?«
»Wovon redest du?«
»Onkel. Er sagt, vielleicht hast du einen Freund, der stattdessen kommen kann. Dann kannst du gehen.«
Mossy starrt ihn an. »Was}«
»Jemanden, der an deiner Stelle herkommen kann. Der sich seine Hände abschneiden lässt.«
»Du meinst, wenn ich das mache, schneidet er mir nicht die Hände ab?«
»Genau.«
Mossy atmet aus. Er hat Mühe, da mitzukommen. »Du meinst«, sagt er und schaut Skinny durchdringend an, denn jetzt ist es wichtiger denn je, dass dieser Typ ihm die Wahrheit sagt, »du meinst, sobald jemand anders hier aufkreuzt, kann ich gehen?«
»Ja. Dann kannst du gehen.«
Mossy beäugt Skinny. Jetzt hat er Herzklopfen. Er versucht, schnell zu denken, denn er weiß, dies ist seine Chance. Es gibt überall in Bristol Leute, die er gern mit abgeschnittenen Händen sehen würde – manchen würde er sie sogar selber abschneiden, wenn er nur die geringste Chance dazu hätte –, aber keiner von denen ist blöd genug, sich in die Lage zu bringen, in der er jetzt ist.
Aber dann fällt ihm doch einer ein: einer, der mies und blöd ist. Dämlich wie Scheiße, genau gesagt. Jonah. Jonah Dundas aus der Siedlung Hopewell. Er schaut zu Skinny auf, und ein Lächeln zuckt um seinen Mund, denn jetzt wird er sich retten, indem er jemand anderen opfert.
Und um die Wahrheit zu sagen: Das ist ein gutes Gefühl.
18
15. Mai
Am nächsten Tag um sieben Uhr morgens hatte der große IDENTl-Computer fünf Vergleichsmuster ausgeworfen und die Abdrücke von der abgetrennten Hand schließlich zweifelsfrei identifiziert: Es handelte sich um Ian Mallows, einen zwei-
undzwanzigjährigen Junkie aus der Wohnsiedlung Knowle West. Als die braven Bewohner von Knowle West sich an den Frühstückstisch gesetzt hatten und aus dem Fenster schauten, wimmelte es draußen von Uniformen: Neun Polizisten der Avon and Somerset Police gingen von Tür zu Tür.
Caffery, dem der Cider vom vergangenen Abend noch zu schaffen machte, stand in Hemdsärmeln an der Tür des Kontaktbereichswagens. Er war müde und hatte Rückenschmerzen. Aber er wusste, der Fall zog sich zusammen, war nicht mehr ganz so ausgefranst an den Rändern. Er hatte das Gefühl, wenn er jetzt ein bisschen Gas gäbe, würden sie bis zum Abend das entscheidende Beweisstück finden – den Rest der Leiche Mallows’. Oder sogar den lebenden Mallows, wenn der Cheftechniker recht hatte. Er hatte einen Detective Sergeant zu Ian Mallows’ Bewährungshelfer geschickt, um ihn vernehmen zu lassen, und eine Unterstützungseinheit hatte Mallows’ Wohnung aufgebrochen, aber sie war leer, und der Cheftechniker hatte die Spurensicherung hineinbeordert. Die übrigen Officers klapperten die Siedlung ab, jeder schwenkte ein Foto von Ian Mallows, und immer wieder bekamen sie die gleiche Antwort. »Fragen Sie BM. BM kennt jeden hier. Fragen Sie BM.« Ein beiläufiger Blick auf die Siedlung mit ihren gedrungenen Backsteinhäusern und den von Hundescheiße übersäten Grasflecken genügte, und Caffery wusste, wer der »BM« war.
Er stand unten an einer Treppe, die Hände in den Taschen, einen Fuß an der Hauswand, ein paar Ketten mit Hundemarken um den Hals. Er trug ein graues Kapuzen-Sweatshirt unter einer schwarzen, blazerähnlichen Jacke. Sein Gesicht war weiß, irgendwie ein Gesicht der englischen Upperclass mit einer römischen Nase und leicht rosa angehauchten Wangen, die aussahen, als käme er gerade vom Rugbyfeld in Harrow. Aber aus der Nähe sah man, dass er ein waschechtes Knowle- West-Gewächs war: Man erkannte es daran, wie seine Augen
hin und her wanderten, wie sein Körper schon jetzt auseinanderging und seine Oberschenkel innen aneinanderrieben.
»Was’n?«, fragte BM, als Caffery auf ihn zukam, den Dienstausweis zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand. Er stieß sich von der Wand ab und beäugte den Ausweis argwöhnisch. »Was ist los?«
»Hast du einen Augenblick Zeit, Junge?«
»Nein. Nein, hab ich nicht.«
»Wie du willst.« Caffery schob den Ausweis in die Tasche. Er schlug seinen Kragen hoch, blieb einen Moment stehen und betrachtete
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