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Ritus

Ritus

Titel: Ritus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz
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seiner Schulter zischte leise, schwarzer Dampf stieg auf, und es roch ekelhaft nach altem, verbranntem Fleisch.
    »Bei Gott dem Allmächtigen!« Malesky schnitt sich das Hosenbein auf und betastete fluchend die geschlagene Wunde. »Sie geht bis auf den Knochen«, stellte er zähneknirschend fest. »Unachtsamkeit tut weh, Messieurs.«
    »Ihr werdet mir sicherlich berichten wollen, was vorfiel«, sagte Jean. Pierre half dem Moldawier auf die Füße und die Leiter hinauf.
    Eine kräftige, verknöcherte Hand legte sich Jean von hinten auf die Schulter und drückte zu. »Vater, lass mich frei«, begehrte Antoine heiser. »Lass mich frei, damit ich sie sehen und mit ihr jagen kann, oder ich schwöre, dass ich bei meinem nächsten Ausflug nicht mehr zu dir zurückkehre.«
    Jean hatte sich beherrscht, bei der unvermittelten Berührung nicht laut aufzuschreien, und gab vor, keine Furcht vor seinem Sohn zu empfinden. Er schaffte es sogar, sich langsam umzudrehen und nicht wegzulaufen; aber als er sah, wem oder was er da gegenüberstand, bewegten sich seine Füße gegen seinen festen Vorsatz rückwärts. Die Hand glitt vom Stoff seines Rocks ab.
    Antoine hatte sich – ohne dass sie es bemerkt hatten – zur Hälfte in einen Menschen zurückverwandelt. Das Gesicht bestand teils aus den schrecklichen Zügen der Bestie, teils aus dem Gesicht des Menschen, den er aufgezogen und heranwachsen gesehen hatte. Die Reißzähne standen zwischen den Lippen hervor, und der Kopf wirkte merkwürdig deformiert und in die Länge gezogen. Der Körper war ein groteskes Zerrbild, eine Chimäre, wie man sie an den Kirchen als Fries oder in Sagenbildern fand, ein Mischwesen aus Mensch und Tier. Die Genitalien baumelten grotesk aus dichter Behaarung hervor.
    »Hörst du, was ich sage, Vater? Ich werde sonst nie mehr zurückkehren!«, drohte er ein weiteres Mal.
    »Ich kann dich nicht mehr mordend herumziehen lassen, Antoine«, sagte Jean erschüttert.
    »Du musst!«, schrie Antoine und rüttelte wieder wie besessen an den Stäben. »Oder ich fresse das Gevaudan leer!« Er hörte mit dem Toben auf und presste die abscheuliche Fratze gegen die Stäbe, die Augen funkelten bösartig. »Und ich werde ausbrechen, Vater. Dann zerreiße ich alles. Jeder Tote wird deinen Namen tragen.«
    Jean wollte nicht glauben, was er sah und hörte. »Antoine, bekämpfe den Garou in dir«, flehte er. »Er ist es, der zu mir spricht, nicht du. Lässt du ihn die Oberhand gewinnen, so hat Malesky gesagt, können wir dich nicht mehr von dem Keim des Bösen befreien.«
    Die schrecklichen Klauenhände schlossen sich fest um die Gitterstäbe. »Wer sagt, dass ich es möchte, Vater? Ich habe mehr Macht, als ich je zu träumen gewagt habe. Die Menschen fürchten mich, ich kann mir nehmen, was immer ich möchte, denn niemand kommt gegen mich an. Die Bestie hat mich zu einem Gott gemacht.« Er schaute Jean in die Augen. »Ich wurde von Kugeln getroffen und starb nicht, ich habe das Blut und das Fleisch von Kindern und Frauen gefressen, und es schmeckte vorzüglich. Es gab mir noch mehr Kraft. Meine Ohren tragen mir Geräusche zu, die ich als Mensch niemals vernahm, ich rieche jede kleine Nuance meiner Umgebung, und meine Muskeln sind stark wie Stahlbänder.« Er reckte sich. »Soll ich diese Macht wieder verlieren?«
    »Wir werden den Fluch von dir nehmen, Antoine.«
    »Dieser Körper ist gesegnet, nicht verflucht. Lass mich raus.«
    »Nein.«
    »LASS MICH RAUS!« Dieser Schrei durchdrang alles, klang wie ein Kanonenschlag durch den Keller und drohte, Jeans Trommelfelle zu sprengen. Er presste die Hände auf die Ohren, während Antoine von Neuem an den Stäben rüttelte. Große Stücke Putz fielen herab. »ICH TÖTE DICH!«, brüllte er. »NIEMAND HÄLT MICH AUF!« Ein Stab brach aus der Verankerung, Antoine schüttelte noch heftiger an den verbliebenen Sperren und lachte triumphierend.
    Jean riss sich zusammen, hob die Silberklinge und rammte sie Antoine in den Oberarm, der aber nicht loslassen wollte, also stach er so lange auf ihn ein, bis der Garou fauchend aufgab. Ein leichenblasser Pierre eilte die Stiege herab, die Muskete mit den Silberkugeln im Anschlag.
    »Ich töte alles, was ich finde. Ihr werdet die Schuld tragen«, versprach Antoine ihnen grollend und kauerte sich im hintersten Winkel zusammen. Es krachte und knackte leise, als sich sein Körper wieder ganz in den eines Menschen verwandelte. Er stöhnte und ächzte und keuchte widerlich, sank schließlich zur Seite,

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