Ritus
sich. »Bonjour, mademoiselle. Erlaubt Ihr mir, mich zu Euch zu setzen?«
Die Frau, die ein einfaches Bauernkleid trug, blieb teilnahmslos.
»Mademoiselle?« Malesky stellte sich ein weiteres Mal vor. Dabei entdeckte er eine tiefe, recht frische Narbe hinter dem rechten Ohr der Frau und eine nicht weniger unschön anzusehende am Ansatz des Schlüsselbeins, die sich weiter in Richtung Schulter zog. Der Moldawier erkannte sie sofort als Bissspuren.
Ein blondschopfiger Junge um die sechzehn Jahre in einfacher Kleidung und mit viel zu ernstem Gesicht kam zu ihm. »Verzeiht, Monsieur. Meine Schwester Jeanne wollte nicht unhöflich sein. Setzt Euch, wenn es Euch beliebt und wenn Euch ihr Verhalten nicht weiter stört. Sie ist das erste Mal wieder unter Menschen.« Er ließ sich neben ihr nieder und fütterte sie.
Jeanne nahm das Essen mechanisch zu sich, weder Abscheu noch Genuss spiegelten sich in ihren ausdruckslosen Zügen wider.
Malesky setzte sich. »Ihr habt mein aufrichtiges Mitgefühl«, sagte der Moldawier und bestellte Brot, Wurst und Wein für zwei, weil er Chastel erwartete. Notfalls würde er das Überschüssige als Verpflegung in seinen Rucksack packen. Er sah die Pistole im Gürtel des Jungen.
»Ihr seid wieder einer von denen, die im Gevaudan ihr Glück versuchen wollen und die Bestie jagen«, sagte der Knabe unvermittelt zu ihm. »Euer Akzent weist Euch als Fremden aus.« Er schaute ihn an. »Aber Ihr werdet bald unverrichteter Dinge abziehen. Monsieur Denneval und sein Sohn erlegen die Kreatur.«
»Da seid Ihr Euch sicher, petit monsieur ?«, gab Malesky höflich zurück. »Das Gleiche dachte man auch von Duhamel und seinen unfähigen Dragonern, bis der König sie zurückpfiff und die Wolfsjäger aus der Normandie sandte.« Er kostete den Wein und beschloss angewidert, es bei einem Glas zu belassen; er schmeckte muffig, faulig. »Ich wette, dass er spätestens in vier Monaten durch den nächsten Pechvogel ersetzt wird, den Louis der Fünfzehnte in das Land des Granits schickt.«
Ohne es zu wollen, hatte er bei dem Jungen einen Auslöser berührt, vermutlich seine Ehre angekratzt. Der Knabe setzte sich aufrecht hin. »Ihr irrt Euch, Monsieur. Ich begleite die Dennevals und kann Euch versichern, dass sie die Sache besser angehen als die Soldaten.«
»Ihr, petit monsieur ?« Malesky deutete auf die Pistole. »Ich sehe, Ihr seid bewaffnet, wahrlich, aber Ihr habt sicherlich vernommen, dass die Bestie mehr verkraftet als das bisschen Blei, das Eure Waffe ausspuckt?«
Der Junge schabte die zerkauten Reste, die der Frau auf den Lippen hafteten, mit dem Löffel weg und wischte ihr den Mund ab. »Die Pistole ist eine von vielen Waffen. Ich trage bei der Jagd immer einen Beutel mit Petroleum bei mir, um ihn gegen die Bestie zu schleudern und sie in Brand zu stecken. Sie fürchtet das Feuer.«
»Ich möchte nicht indiskret sein, petit monsieur, aber hattet Ihr das Vergnügen, in Euren jungen Jahren schon gegen das Biest antreten zu dürfen?«
»Es war kein Vergnügen.« Der junge Mann streichelte die Wange seiner Schwester. »Mein Name ist Jacques Denis. Jeanne hütete mit mir Anfang März die Ziegen und Schafe auf einer Weide unweit von Malzieu. Wir hatten einen Unterstand bezogen, ich entzündete gerade ein Feuer, und plötzlich war dieses Ungeheuer da. Es griff Jeanne an und biss ihr in den Kopf. Ich wurde bei der Attacke umgestoßen und wollte nichts anderes, als meiner Schwester beizustehen. Mit bloßen Händen schlug ich auf diese stinkende Kreatur ein, und als das nichts half, versetzte ich ihr einen Tritt. Sie ließ Jeanne los und fiel in die Flammen. Ich schwöre Euch, Monsieur, das Geschrei, das diese Kreatur von sich gab, war nicht von dieser Welt – und doch fing ihr Fell kein Feuer. Sie schüttelte die Glut ab und rannte davon.« Er seufzte und rieb die Finger der Schwester. »Wir brachten Jeanne nach Hause. Ihre Seele hat Schaden genommen, wie der Pater uns sagte. Sie benötigt gewiss Monate, um sich richtig zu erholen … und vielleicht bleibt sie auch für immer in diesem Dämmerzustand.« Jacques klopfte mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck gegen den Griff der Pistole. »Die hat mir Monsieur Denneval geschenkt, als ich mich ihm als Führer angeboten habe. Die Bestie wird sterben, und ich sehe dabei zu, das ist sicher.«
Unbemerkt war Antoine Chastel an sie herangetreten und hatte zugehört. Nun dröhnte sein lautes, wildes Lachen durch die Stube, und er deutete mit ausgestrecktem
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