Rivalen der Liebe
durchdringende Stimme lenkte Julianna von den düsteren Gedanken ab.
»Die Moral ist heutzutage einfach entsetzlich lasch. Diese Sachen, die die Gesellschaftskolumnisten berichten! Das ist doch das Gekritzel vom Teufel persönlich, und diese Autoren sind allesamt verdammt. Erst letzte Woche stand in ›Geheimnisse der Gesellschaft‹ etwas über Lord Roxburys Neigungen. Damit wurden Legionen junger Männer in ganz London verdorben! Die Autorin sollte sich schämen!«
Julianna betrachtete beinahe schuldbewusst den Saum ihres Kleids.
»Lady Stewart-Wortly, Ihr kennt Euch aber erstaunlich gut darin aus, was die verschiedenen Gesellschaftsspalten berichten, wenn man bedenkt, dass Ihr so etwas vermutlich nicht lesen würdet, weil Ihr Euch damit liederlicher Literatur aussetzen müsstet«, wandte Lady Charlotte ein. Für eine Siebzehnjährige war sie ganz schön gewitzt.
»Du bist ein unverschämtes Mädchen«, schnaufte Lady Stewart-Wortly.
»Ich weiß. Das sagt jeder«, antwortete Charlotte lächelnd und seufzte dramatisch. Sophie musste schon wieder die Lippen spitzen, sonst hätte sie es sich vermutlich nicht verkneifen können, laut aufzulachen.
Julianna war immer noch erzürnt über Lady Stewart-Wortlys Bemerkungen und zu gereizt, um zu lachen. Gekritzel vom Teufel persönlich! Legionen junger Männer verdorben! Sie sollte sich schämen!
Sie war, alles in allem, verdammt stolz auf sich und ihre Karriere – falls das überhaupt irgendjemanden ihrer Leser interessierte. Natürlich konnte sie das nicht laut sagen, weil sie dann ja ihre Identität preisgeben müsste, die bisher immer noch ein Geheimnis war. Sie verdiente sich dank ihres Verstands, ihres Talents und ihres Muts den eigenen Lebensunterhalt! Sie schrieb damit Geschichte und lebte ein Leben in Freiheit, von dem die meisten Frauen doch nur träumten! Sie liebte das Schreiben und die Weekly , für die sie schrieb, und sie wünschte, sie könnte diese Liebe von den Dächern der Stadt verkünden.
Allerdings nicht heute Abend.
Angesichts der Ereignisse an diesem Morgen, als bei einem Duell fast zwei Männer ihr Leben ließen – und das nur wegen ihres Artikels! –, war Juliannas Stolz sichtlich abgekühlt. Sie liebte das Schreiben nach wie vor, aber nun hatte sie begriffen, dass Schreiben auch bedeutete, Verantwortung zu übernehmen, damit keine unschuldigen Männer verletzt oder sogar getötet wurden.
Julianna riskierte noch einen Blick in Roxburys Richtung, und diesmal ertappte sie ihn dabei, wie er gezielt in ihre Richtung starrte.
Sie musste sofort aus Roxburys Blickfeld verschwinden! Die Art, wie er sie anschaute, ließ ihre Haut fiebrig brennen, und sie fühlte sich auf eine Weise erregt, die sie weder beschreiben konnte noch verstand.
Julianna murmelte eine Entschuldigung und schlich sich so unauffällig wie möglich von dannen. Die dunkelgrünen Seidenröcke ihres Kleids raschelten um ihre Knöchel, als sie sich durch das Gedränge schob. Sie kam an Baron und Baroness of Pinner vorbei, als diese gerade ansetzten, Walzer zu tanzen. Geschickt wich sie Lady »Sperling« Rawlings aus, die unablässig auf ihre Zuhörerinnen einzwitscherte, und sie nickte, als sie an der Gastgeberin Lady Walmsly vorbeikam, die ihr ein warmes Lächeln schenkte.
»Lady Somerset.« Jemand rief ihren Namen. Sie konnte sich schon denken, wer ihr da folgte.
Rasch blickte Julianna über die Schulter und erhielt sofort die Bestätigung: Roxbury rief nach ihr – nein, er befahl ihr, stehenzubleiben.
Da traf er bei ihr allerdings auf taube Ohren. Egal, was sie gerade gefühlt oder gedacht hatte – kein Mann auf dieser Welt hatte ihr etwas zu befehlen! Julianna schaute nach vorne, lächelte höflich und nickte ihren Bekannten freundlich zu, während sie an ihnen vorbeieilte. Jeder nickte und lächelte freundlich zurück. Seit Somersets Tod war viel passiert. Damals waren der Name und sie von seinem skandalösen Tod beschmutzt worden. Inzwischen hielt die Gesellschaft sie für eine respektable, unbescholtene Frau. Sie war bei jedem willkommen als eine nette junge Witwe, bei der keiner nachfragte, ob sie rufschädigende Dinge in der Zeitung schrieb. Jeder war ihr gegenüber vorsichtig und stellte sich gut mit ihr – nur für den Fall, dass die Gerüchte stimmten und sie tatsächlich die Lady mit Klasse war.
Sie war jedenfalls nicht erpicht darauf, erneut von einem Schuft in die Niederungen der Gesellschaft hinabgezogen zu werden, weshalb Julianna den erzürnten Mann
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