Rivalin der Götter erbin3
Zwischen Dutzenden schwarzer Gänseblümchen, die in der kühlen Brise hin und her schwankten, stand eine einzige Blume mit weißen Blütenblättern ganz still. Es war kein Gänseblümchen. Ich hatte noch nie so eine Blume gesehen: eine Altarschürzenrose; eine seltene Blume, die in Hochnord gezüchtet
wurde. Der weiße Turm meines Geheimnisses wiederholte sich in der Form und in dem Motiv.
»Dieses Geheimnis wird schmerzen, wenn es schließlich enthüllt wird«, sagte er.
Ich nickte langsam. Mein Blick ruhte auf der einzelnen, beängstigenden Blume. »Ja. Das sehe ich.«
Die Hand auf meiner Schulter überraschte mich. Ich drehte mich um und sah, dass Nsanas Stimmung wieder umgeschlagen war: Er war nicht länger böse auf mich, sondern empfand eher so etwas wie Mitleid. »So viele Sorgen«, sagte er. »Bevorstehender Tod, der Wahnsinn unserer Eltern. Und ich sehe jemanden, der vor kurzem dein Herz gebrochen hat.«
Bei diesen Worten schaute ich fort. »Das ist nichts. Nur eine Sterbliche.«
»Liebe ebnet den Weg zwischen uns und ihnen. Wenn sie unsere Herzen brechen, schmerzt es genauso, als ob einer von uns diese Tat begangen hätte.« Er legte eine Hand um meinen Hinterkopf und zauste mir freundschaftlich die Haare. Ich lächelte schwach und versuchte, nicht zu zeigen, wie sehr ich stattdessen einen Kuss wollte. »Ah, mein Bruder. Sei nicht so dumm, ja?«
»Nsana, ich …« Er legte einen Finger an meine Lippen, und ich schwieg.
»Schhh«, murmelte er und beugte sich zu mir. Ich schloss meine Augen und wartete auf die Berührung seiner Lippen. Doch sie kam, wo ich sie nicht erwartet hatte: auf meiner Stirn. Als ich ihn anblinzelte, lächelte er tieftraurig.
»Ich bin ein Gott, kein Stein«, sagte er. Ich errötete beschämt. Er streichelte meine Wange. »Doch ich werde dich immer lieben, Si’eh.«
Ich erwachte in der Dunkelheit und weinte mich wieder in den Schlaf. Wenn ich vor Anbruch des Morgengrauens noch mehr träumte, so weiß ich nichts mehr davon. Nsa war so gütig.
Mein Haar war schon wieder gewachsen, aber nicht so viel wie vorher. Nur einige Fuß. Genau wie meine Nägel; der längste war vier Zoll und rissig; und er begann sich einzurollen. Ich bat Hymn um eine Schere und schnitt beides ab, so gut es ging. Vor gar nicht langer Zeit musste ich Hymns Vater bitten, mir beizubringen, wie man sich rasiert.
Das amüsierte ihn so sehr, dass er für einige Minuten vergaß, Angst vor mir zu haben. Als ich mich schnitt und ein sehr böses Wort herausschrie, lachten wir sogar zusammen. Dann begann er sich Sorgen zu machen, dass ich mich eines Tages schnitt und womöglich das ganze Haus in die Luft jagte. Wir konnten keine Gedanken lesen, aber einige Dinge kann man leicht erraten. Ich entschuldigte mich und ging zur Arbeit.
Sofort beleidigte ich die Hausdame vom »Arme der Nacht«, indem ich durch die Haupteingangstür ging. Sie nahm mich wieder mit hinaus und zeigte mir den Dienstboteneingang. Es handelte sich um eine unaufällige Tür an der Seite des Hauses. Dahinter ging es in den Keller. Um ehrlich zu sein, war das die bessere Tür; ich hatte schon immer Hintereingänge bevorzugt. Sie waren gut zum Anschleichen. Doch mein Stolz war genug getroffen, dass ich mich dennoch beschwerte. »Was? Bin ich nicht gut genug, um durch den Vordereingang zu kommen?«
»Nicht, wenn du nicht bezahlst«, fuhr sie mich an.
Drinnen nahm mich ein weiterer Diener in Empfang und ließ mich wissen, dass Ahad für den Fall meines Eintrefens Anweisungen hinterlassen hatte. Also folgte ich ihm durch den Keller in einen ziemlich vornehmen Konferenzraum. Dort standen Stühle mit festen, hohen Lehnen, die so aussahen, als ob sie jahrelang Langeweile absorbiert hätten. Außerdem gab es einen breiten, viereckigen Tisch, auf dem ein Teller mit Fleisch und Früchten stand. Ich nahm das alles kaum wahr und blieb stehen. Mein Blut gefror mir in den Adern, als ich erkannte, wer da mit Ahad an dem großen Tisch saß. Nemmer.
Und Kitr. Und Eyem-sutah. Und Glee, die einzige Sterbliche. Und von allen Wahnsinnigen ausgerechnet Lil.
Fünf meiner Geschwister saßen um den Konferenztisch, als ob sie nie durch die Strudel des äußersten Kosmos als lachende Funken gewirbelt wären. Drei der fünf hassten mich. Der Vierte möglicherweise auch: bei Eyem-sutah wusste man nie so genau. Die Fünfte hatte mehr als einmal versucht, mich aufzufressen. Sie würde es höchstwahrscheinlich wieder versuchen, jetzt, da ich ein Sterblicher
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