Roemisches Roulette
Wohnungstür zu öffnen. Sie stützte sich beschwerlich auf einen Gehwagen, und ich merkte, wie sehr es sie allein anstrengte, die Tür aufzuhalten. Sie trug eine Hose aus Polyester und einen abgetragenen beigefarbenen Strickpullover.
“Rachel, wie schön dich zu sehen.”
Ich umarmte sie und war erleichtert, dass sie es zuließ. Schließlich wusste ich nicht, wie sie zu den Vorwürfen stand, die gegen Nick und mich erhoben worden waren.
“Komm rein”, forderte sie mich auf. Sie ließ die Tür ins Schloss fallen, und ich folgte ihr durch einen kurzen Flur ins Wohnzimmer, in das noch die letzten Sonnenstrahlen des Tages rieselten.
“Möchtest du etwas trinken?”, fragte sie.
“Ach nein, danke. Ich wollte nur kurz vorbeischauen und sehen, wie es Ihnen geht. Wie Sie zurechtkommen.”
Sie deutete auf ein senffarbenes Sofa, auf dessen linker Hälfte sich Zeitschriften stapelten. “Entschuldige, aber das Aufräumen strengt mich sehr an.”
Ich setzte mich rechts neben den Papierberg, und Mrs. Kernaghan nahm auf einem alten Sessel mit ausfahrbarer Fußstütze Platz. Auf einer Armlehne standen in Reih und Glied lauter kleine Medikamentenfläschchen. Auf der anderen Seite lag die Fernbedienung für den Fernseher. Daneben stand ein halbvolles Wasserglas.
“Und, wie geht es Ihnen?”, wiederholte ich.
Obwohl sie sich zu einem Lächeln zwang, sah sie aus, als bräche sie jeden Moment in Tränen aus. “Ich vermisse Kit.”
“Es muss schlimm für Sie sein”, sagte ich. Unwillkürlich legte ich die Hand auf meinen Bauch. Wie konnte ein Elternteil nur sein Kind verlieren? Das war einfach unnatürlich.
Sie nickte kaum merklich, als würde ihr Körper bei einer heftigen Bewegung zerbrechen. “Die Anklage wurde fallen gelassen?”, fragte sie schlicht.
“Ja.”
Wieder nickte sie. “Das freut mich.”
“Wirklich?”
“Ich weiß, dass du Kit niemals etwas angetan hättest.”
“Sie haben recht. Das hätte ich niemals gekonnt.”
Keine von uns sagte ein Wort über Nick.
Nach einem Augenblick sprach sie weiter. “Wie gesagt: Ich freue mich, dass es vorbei ist, aber zugleich ist es auch schrecklich.” Sie blickte hinab in ihren Schoß. “Es bedeutet, dass sie nun wirklich fort ist.”
Ich schloss die Augen. Ich wusste genau, was sie meinte. Jetzt war Kit endgültig gegangen – in keiner Gerichtsverhandlung würde noch ihr Foto gezeigt oder ihr Name genannt werden, und die Bestattung war auch schon lange her. In unserer Erinnerung verblasste sie bereits und irgendwann würde ich ihr schließlich vergeben. Ich würde jedem vergeben, auch Nick, denn es war an der Zeit, in meinem Leben ein neues Kapitel aufzuschlagen.
“Rachel, ich freue mich, dass du hier bist”, sagte Mrs. Kernaghan, “weil ich dir ein paar Dinge geben möchte.”
“Mir etwas geben?”
“Ja. Zuerst etwas, das Kit sich von dir geliehen hat. Oder vielleicht hat sie es auch gestohlen. Das weiß ich nicht. Kit war … Nun ja, in den Wochen vor ihrem Tod war sie irgendwie anders. Nicht mehr sie selbst, verstehst du?”
“Ja, ich weiß.”
“Sie sprach immerzu davon, wie gerne sie wie du wäre. Sie wollte dein Leben führen.”
Ich schwieg.
Mrs. Kernaghan fuhr fort und schüttelte dabei langsam den Kopf. “Nach dem Tod meines Mannes habe ich meine Kinder ein wenig vernachlässigt. Aber Kit war ein so geselliger Mensch. Ich dachte, ihr würde es immer gut gehen. Doch dann wurde sie … na ja, sie wurde jemand anderes.”
Ich nickte. “Das habe ich auch bemerkt.”
“Sie war wütend, weil ihr Leben ihr nicht gab, was sie verlangte. Ich erklärte ihr, dass das Leben nicht immer fair ist. Aber sie meinte, sie verdiene etwas Besseres. Sie sagte, sie würde sich eben alles nehmen.” Mrs. Kernaghan stieß einen kleinen Seufzer aus. “Irgendwann machte ihre Wut sie richtig niederträchtig. Sie hat sie aufgefressen und in einen anderen Menschen verwandelt.” Sie sah mir in die Augen. “Aber ich weiß, dass sie dich geliebt hat, Rachel.”
Wieder schwieg ich.
“Und ich weiß, sie hätte gewollt, dass du dein Bild zurückbekommst.”
Ich setzte mich aufrechter hin. “Ein Bild?”
“Ja, es liegt in ihrem Zimmer. Ein kleines rotes …”
“Ja, ich weiß schon.”
“Wenn du es bitte holen würdest?” Sie deutete den Flur hinunter. “Die zweite Tür auf der linken Seite. Ich kann mich nicht mehr so gut bewegen.”
Widerstrebend stand ich auf. Ich wollte das Bild nicht. Ich wollte Kits Zimmer nicht betreten. Aber Mrs.
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