Rollende Steine
Er-
scheinung hatte bemerkenswerte Ähnlichkeit mit dem Skelett einer Rat-
te, das einen schwarzen Umhang trug und eine kleine Sense in der knö-
chernen Pfote hielt.
Susanne wandte sich wieder dem Buch zu. Solche Dinge existierten
nicht – da war sie sicher.
QUIEK!
Sie senkte erneut den Blick und stellte fest, daß die winzige Gestalt
noch immer neben dem Pult stand. Nun, das Abendessen des vergange-
nen Tages hatte aus überbackenem Käsetoast bestanden. Da mußte man
wohl mit solchen Konsequenzen rechnen.
»Dich gibt es gar nicht«, sagte Susanne. »Du bist nur ein Stück Käse.«
QUIEK?
Als die Erscheinung sicher sein konnte, Susannes volle Aufmerksam-
keit zu haben, holte sie eine kleine Sanduhr hervor und deutete darauf.
An dem Stundenglas war eine goldene Kette befestigt.
Entgegen al er Vernunft beugte sich Susanne nach unten und öffnete
ihre Hand. Die Gestalt kletterte hinein – ihre Füße fühlten sich an wie
Stecknadeln – und musterte sie erwartungsvol .
Die Schülerin hob das Etwas in die Augenhöhe. Ein Hirngespinst, ein
Produkt ihrer eigenen Phantasie – etwas anderes kam nicht in Frage.
Trotzdem erwachte Neugier in Susanne.
»Du hast doch nicht vor, ›Bei meinen Pfoten und Schnurrhaaren‹ zu
sagen, oder?« fragte sie mißtrauisch. »Wenn du dich dazu hinreißen läßt,
werfe ich dich in den nächsten Abort.«
Die Ratte schüttelte den völlig schnurrhaarlosen Kopf.
»Gibt es dich wirklich?«
QUIEK. QUIEKQUIEKQUIEK…
»Entschuldige«, sagte Susanne. »Ich spreche kein Nagetierisch. In Mo-
derne Sprachen wird nur Klatschianisch unterrichtet, und ich habe gera-
de gelernt, wie man ›Das Kamel meiner Tante ist in die Fata Morgana
gefallen‹ sagt. Wenn ich mir deine Existenz nur einbilde, könntest du
versuchen, etwas… hübscher auszusehen.«
Ein Skelett – selbst ein kleines – sieht nie in dem Sinne »hübsch« aus,
nicht einmal dann, wenn es eine offene Miene hat und lächelt. Doch
Susanne gewann plötzlich den Eindruck – besser gesagt, sie erinnerte sich
–, daß dieses Skelett nicht nur wirklich existierte, sondern auch auf ihrer Seite war. Das erstaunte sie. Bisher war nur sie selbst auf ihrer Seite gewesen.
Die Ratte richtete einen stummen Blick auf Susanne, nahm dann die
kleine Sense zwischen die Zähne und sprang von der Hand herunter. Sie
landete auf dem Boden des Klassenzimmers und lief an den Pulten vor-
bei.
»Du hast nicht einmal Pfoten und Schnurrhaare«, sagte Susanne. »Zu-
mindest keine richtigen.«
Das Skelett trat durch die Wand.
Susanne senkte den Kopf und konzentrierte sich ganz auf die Lektüre
von Schlimmerwahns Teilbarkeitsparadoxon: Es bewies die Unmöglich-
keit, von einem Holzklotz zu fal en.
Sie probten noch am gleichen Abend in Glods viel zu ordentlicher Un-
terkunft. Das Quartier des Zwergs lag hinter einer Gerberei in der Flei-
ßigen Straße und war vermutlich von umherwandernden Ohren der Mu-
sikergilde geschützt. Die Wände schienen gerade erst gestrichen worden
zu sein, und alles wirkte blitzblank. Der kleine Raum funkelte geradezu.
Wo ein Zwerg wohnte, gab es keine Kakerlaken, Ratten oder anderes
Ungeziefer. Zumindest nicht, wenn der betreffende Zwerg mit einer
Bratpfanne umgehen konnte.
Glod und Imp sahen zu, wie Lias seine Steine aneinanderschlug.
»Na, waf ihr haltet davon?« fragte er.
»Das ist alllles?« erwiderte Imp schließlich.
»Ef find Fteine«, sagte der Troll geduldig. »Man fie nur kann aneinan-
derflagen. Peng, peng, peng.«
»Hm«, machte Glod. »Darf ich es mal versuchen?«
Er setzte sich hinter die Steine und betrachtete sie nachdenklich. Dann
rückte er einige von ihnen zurecht, öffnete seine Werkzeugtasche, ent-
nahm ihr zwei Hämmer und schlug einen Brocken versuchsweise an.
»Nun, mal sehen…«, murmelte er.
Bamm-bamm-BAMM.
Neben Imp summten die Saiten der Gitarre.
»Ohne ein Hemd«, sagte Glod.
»Wie bitte?« fragte Imp.
»Das ist nur ein bißchen musikalischer Unsinn«, erklärte Glod. »Wie
zum Beispiel ›Rasieren und Haare schneiden, zwei Cent‹.«
»Was?«
Bamm-Bamm-a-BammBamm, BammBAMM.
»Zwei Cent billig für Rasieren und Haare schneiden«, kommentierte
Lias. Er schien sein Lispeln wegen des fehlenden Zahns jetzt unter Kon-
trolle zu haben.
Imps Blick klebte an den Steinen fest. Auch von einem Schlagzeug
hielt man in Llamedos nicht viel. Die älteren Barden meinten, jeder sei
imstande, mit Holzstäbchen auf Steine oder einen hohlen
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