Roman
nicht so sehr wie ihn.«
Die Worte waren heraus, ehe ich es verhindern konnte. Sie widersprach nicht. Wir wussten beide, dass es stimmte.
Ich überlegte kurz, böse zu werden, mich zu beklagen, mich mit ihr zu streiten – aber was für einen Sinn hätte das?
Sie würden weiter zusammen glücklich sein, in ihrer eigenen kleinen Co-Abhängigkeit leben, und sie brauchten niemand anders. Es war ihre Entscheidung. Ich fand es zwar schade, dass sie nie erfahren würde, was sie verpasste, aber ich schwieg, nahm meine Sachen und ging. Eines Tages würde einer von den beiden sterben, und der andere würde ganz allein dastehen. Das war die traurige Wahrheit, aber sie wollten es so.
Wenn ich in den letzten Jahren eines gelernt hatte, dann, dass man sich nicht um das Morgen sorgen sollte. Das Heute zählte, es galt, im Heute zu leben.
Und heute kam ich aus einem ganz bestimmten Grund zu spät.
Lektion 152
Sei immer dankbar für das, was du hast, und trag tolle Schuhe
»Hab ich was verpasst? Ja? Haben sie schon angefangen?«
Im Künstlerzimmer drehten sich alle um, als ich hereingestürmt kam, Lizzy-like umknickte, stolperte und gegen einen Tisch mit Snacks fiel. Ich wusste, dass es keine gute Idee gewesen war, mir Gingers zwanzig Zentimeter hohe Louboutins auszuleihen.
Eine Sekunde herrschte Schweigen, dann brach eine Welle der Hysterie über mich herein.
»Das war ein Auftritt, Lou.« Ginger lachte. »Vielleicht sollte ich das mal auf der Bühne probieren.«
Lizzy unterbrach sie. »Das hat sie alles von mir gelernt.«
Cassie schlug sich nur entsetzt an die Stirn.
Mein Mädchen sah so wunderschön aus, auch wenn ihr Outfit nicht ganz der klassischen Vorstellung von der Garderobe einer Siebenjährigen entsprach. Klar hätte ich sie viel lieber im rosa Taftrock, weißem Jäckchen und roten Lackschuhen gesehen. Aber als ich mit ihr die Klamotten für den heutigen Abend gekauft hatte, hatte sie mir in der Umkleidekabine bei Marks & Spencer unmissverständlich und in voller Lautstärke zu verstehen gegeben, sie sei sieben und nicht vier und über den Zauberer von Oz schon lange hinaus. Tja, manchmal merkte man doch, dass sie Gingers Nichte war.
Und nun sah sie eben nicht aus wie Judy Garland, sondern trug schwarze Bikerstiefel (die Ginger ihr aus New York mitgebracht hatte), ein Mötley-Crüe-Shirt im Vintagelook (ebenfalls von Ginger), hautenge weiße Jeans und einen langen silbernen Cardigan, der aussah, als bestünde er aus lauter Spinnweben. Entweder war dies ein Zeichen für einen sehr ausgefallenen Modegeschmack oder eine ernstzunehmende Warnung, dass ihre Pubertät noch einiges Interessante für uns bereithielt. Ich warf ihr einen Luftkuss zu, und sie verdrehte die Augen. Ihre beiden Freundinnen, die neben ihr saßen, kicherten.
Seit dem ersten Schultag waren die drei unzertrennlich. Tilly war süß und schüchtern und interessierte sich schon jetzt für alles, was mit Haushalt und Kochen zu tun hatte – wenn sie sich gerade mal nicht in der Notaufnahme des Krankenhauses befand, weil sie sich beim Laufen, Schaukeln, Rollerskaten oder beim Sturz in einen Teich eine Platzwunde, Knochenfraktur oder Schnittverletzung zugezogen hatte. Cassies beste Freundin Nummer zwei, Roxy, war gerade damit beschäftigt, mit dem Kopf zum Rhythmus eines Songs auf ihrem iPod zu nicken und so erwachsen wie möglich auszusehen. Ich nahm mir fest vor, jeden Abend alle Clubs in der Umgebung zu kontrollieren, sobald sie alt genug waren, um als Achtzehnjährige durchzugehen.
Lächelnd nahm ich mir ein Glas mit irgendwas Sprudeligem vom Getränketisch, küsste Red und quetschte mich neben ihn auf die Stuhlkante. Automatisch legte er den Arm um meine Hüften. Oh, ich liebte das!
»Wann bist du dran?«, fragte ich meine Schwägerin.
»Um sechs.«
An diesem Abend wurde eine Einspielung für die Jonathan-Moss-Show auf Kanal 4 aufgenommen, in der Ginger zu Gast war. Die Anfrage war nach einem selbst für ihre Verhältnisse eher ungewöhnlichen Vorfall erfolgt. Ja, sie hatte in den Neunzigern einigen Ruhm als Sängerin errungen. Und ihr Gesicht war regelmäßig in den einschlägigen Musikzeitschriften zu sehen gewesen, weil sie ein paar gute Bands gemanagt hatte, unter anderem die aktuell coolste Boygroup im ganzen Land.
Aber so richtig bekannt war sie erst, seit man gesehen hatte, wie sie in der Erste-Klasse-Lounge eines Flughafens eine ziemlich prominente Sängerin gemaßregelt hatte: »Nimm endlich den Stock aus deinem Arsch, und hör
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