Romana Exklusiv 0187
Sie war Musiklehrerin gewesen und vermisste wohl ihren Beruf.“
Sie hatte Tansy verschiedene Instrumente vorgeführt und als sie erkannt hatte, wie fasziniert sie war, darum gebeten, sie unterrichten zu dürfen. Pam O’Brien hatte gesagt, dafür wäre kein Geld da, und daraufhin hatte sich Miss Harding an das Sozialamt gewandt. Ein verständnisvoller Mitarbeiter fand die Idee großartig und sorgte dafür, dass das Sozialamt die Bezahlung übernahm.
Damit begann Tansys Doppelleben. Zu Hause war sie das fünfte Rad am Wagen, bei Miss Harding hörte sie mit Tränen in den Augen die Musik der großen Komponisten. Ihr wurden für sie völlig neue Regeln des guten Benehmens beigebracht, und sie wurde von ihrer Erzieherin aus den besten Beweggründen beeinflusst. Aber Tansys Glück dort, das Gefühl der Erfüllung, der Wunsch, zu lernen und wie Miss Harding zu werden, hatte die Spannungen ausgelöst, die schließlich zu Tansys Flucht aus ihrem Elternhaus geführt hatten.
„Als ich Klavierunterricht bekam“, sprach sie weiter, „habe ich mehr Zeit mit der Theorie als mit Spielen verbracht. Ich wusste von Anfang an, dass ich Musik schreiben wollte.“
Obwohl es ihr verboten worden war, hatte Tansy nachts, wenn ihre ältere Schwester eingeschlafen war, im Licht einer Taschenlampe komponiert. Natürlich war es entdeckt worden, und aus Ärger über Tansys Ungehorsam hatte Pam die Arbeit von sechs Monaten verbrannt. Danach war Tansy noch verschlossener geworden, hatte sich stundenlang in ihrer eigenen Welt, die sie mit Miss Harding teilte, verloren.
Mager, stark gefühlsbetont, zu Wutanfällen und Eigensinn neigend, unfähig zu Kompromissen, war sie ein schwieriges Kind gewesen.
Wie alle kreativen Menschen habe ich für meine Kunst gelitten, dachte Tansy spöttisch.
Und das hatten ihre Pflegeltern auch getan. Sie waren nicht absichtlich lieblos gewesen, sondern hatten sie einfach nicht verstanden. Zum Teil war Pam O’Briens Groll darauf zurückzuführen, dass sie sich für ihre eigenen Kinder keinen solchen Unterricht leisten konnte. Mit einer gewissen Genugtuung hatte sie Tansy eines Tages gesagt, die alte Dame wäre gestorben. Damals war Tansy vierzehn gewesen, und die ohnehin schon angespannte Situation war unerträglich geworden.
Tansy und Miss Harding hatten oft über ihre Zukunft gesprochen, darüber, dass sie auf die Universität gehen würde. Aber Tansy war nicht gut genug in der Schule. In Musik und Mathematik hatte sie die besten Noten, in den anderen Fächern kam sie so gerade durch die Prüfungen.
Unglücklicherweise war der verständnisvolle Sozialarbeiter entlassen, und der neue war unmusikalisch und überlastet.
Alle hielten es für Geldverschwendung, wenn Tansy studieren würde oder auch nur weiter zur Schule ging. Deshalb besorgten ihre Pflegeltern ihr nach der sechsten Klasse einen Job in einem Supermarkt. Und Tansy, die sich nach dem Tod Miss Hardings völlig allein gelassen fühlte, lief so weit weg, wie es ihre geringen Ersparnisse erlaubten. Da es zu teuer gewesen war, die Fähre über die Cookstraße zur Südinsel zu nehmen, war Tansy in Wellington gelandet.
Obwohl sie nach jenem ersten Jahr wieder Kontakt zu den O’Briens aufgenommen hatte, fühlte sich Tansy nicht mehr als Familienmitglied. Das hatte sie nie getan. Und sie bereute es nicht, gegangen zu sein. Es war das einzig Richtige gewesen.
„Was für Musik?“, fragte Leo.
„Keine bestimmte“, wich Tansy aus.
„Die Ballade, die Sie gestern gesungen haben?“
„Das war im Grunde nichts Eigenes“, sagte Tansy aggressiv. „Ich habe alle Zutaten eines Folksongs zusammengemischt, und das ist dabei herausgekommen, wie Sie erkannt haben.“
„Es klang gut.“
„Ja, natürlich. Was ist der Sinn eines Lieds, wenn es das nicht tut?“
„Besonders wenn man will, dass die Leute für das Vergnügen bezahlen.“
„Dann besonders.“
„Singen Sie gern auf der Straße?“
„Man kann seinen Lebensunterhalt damit verdienen.“
„Ist es nicht gefährlich?“
„Ich gehe nie abends nach draußen. Und unter Straßenleuten herrscht so etwas wie Kameradschaft. Wir passen aufeinander auf.“
Leo nahm stirnrunzelnd sein Glas Rotwein. Im goldfarbenen Schein der Lampen traten seine Gesichtszüge deutlich hervor, die gerade Nase, das energische Kinn, die hohen Wangenknochen.
Er ist viel zu attraktiv, dachte Tansy, und er weiß es, wie sein Selbstvertrauen und die beunruhigende Ausstrahlung unterdrückter Stärke verraten.
Plötzlich
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