Romana Extra Band 1
aufzubauen . Cala de Laura stellte für ihn ein Bindeglied zur Vergangenheit dar. Nirgendwo auf der Welt fühlte er sich seiner verschwundenen Schwester Laura näher als hier.
Die unberührte Schönheit der Natur und das funkelnde Firmament über ihm ließen sogar seine Wut auf Beth langsam verrauchen, und er konnte mit ein wenig Abstand über das nachdenken, was sie gesagt hatte. Ob es stimmte, dass sie all das nur tat, um ihre Familie zu beschützen? Durfte er ihr nach allem überhaupt noch ein Wort glauben?
Zu seiner Überraschung tat er es. Vielleicht lag es an der Verzweiflung, die er in ihren Augen gesehen hatte. Womöglich konnte er aber auch einfach nur nachempfinden, wie weit ein Mensch zu gehen bereit war, wenn es um das Wohl derjenigen ging, die er liebte. Denn obgleich Luís selbst noch ein Kind gewesen war, als seine Schwester verschwand, hatte er Laura nie vergessen. Und wenn ich wüsste, dass sie mich braucht, würde ich nicht zögern, ihr zu Hilfe zu kommen, ging es ihm durch den Kopf.
Doch er glaubte schon lange nicht mehr daran, dass Laura wiederkam. Die Presse war damals von einem Verbrechen ausgegangen, und auch die Polizei hatte das nicht ausschließen können. Ebenso gut aber konnte es sein, dass das Mädchen einfach davongelaufen und verunglückt war.
Luís seufzte. Es war schon so lange her, dass ihm die Zeit mit Laura manchmal wie ein schöner Traum vorkam. Und was auch immer passiert sein mochte, es ließ sich nicht rückgängig machen.
Er hatte diesen Ort Cala de Laura getauft – Lauras Bucht. Nur hier schien sie ihm noch immer allgegenwärtig zu sein. Hier, an dem Ort, der in ihrer Kindheit ihr geheimer Treffpunkt gewesen war.
Einen Sommer lang hatten sie viele Stunden im Schatten der alten Steineiche gesessen. Luís mit einer illustrierten Ausgabe von Alice im Wunderland auf dem Schoß, die sie in ihrem Geheimversteck – einem großen Astloch im Stamm des Baumes – aufbewahrten. Jeden Tag ein Kapitel. Er, damals gerade neun, las ihr vor, da für Laura mit ihren sechs Jahren der Text noch zu schwierig war. Seit dem Tag ihres Verschwindens hatte Luís das Buch nicht mehr angerührt. Vermutlich war längst nur noch Staub davon übrig.
Konnte ausgerechnet er es Beth verübeln, dass sie versuchte, ihrer Familie zu helfen?
Geistesabwesend zückte er sein Handy. Fünfzehn Anrufe in Abwesenheit. Immer dieselbe Nummer.
Beth, keine Frage.
Seine Gedanken schweiften in eine Richtung ab, die ihm nicht gefiel. Eigentlich sollte er Beth einfach aus seinem Gedächtnis streichen. Es war besser, sie nie mehr wiederzusehen. Er sollte sich überhaupt auf keine Frau mehr einlassen. Die Erfahrung mit Juana war dazu Anlass genug. Sie hatte nur mit ihm geschlafen, um von ihm schwanger zu werden und auf diese Weise ein Druckmittel gegen ihn zu haben. Erst als ihr das gelungen war, hatte sie ihr wahres Gesicht gezeigt.
Eine solche Katastrophe wollte er auf keinen Fall noch einmal erleben – und deshalb hielt er sich seitdem von den Frauen fern.
Im Falle von Beth konnte er es einfach nicht. Er wusste selbst nicht, warum, aber es ging nicht anders. Er musste ihr zeigen, was sie und ihre Auftraggeber zerstören würden, wenn er ihnen das Grundstück überließ. Sie sollte diesen Ort mit eigenen Augen sehen und begreifen, dass er geschützt werden musste.
Danach würde man weitersehen.
Beth stellte die Milch zurück in den Kühlschrank, nahm ihr Glas und setzte sich damit an den Esstisch. Es war noch immer derselbe, an dem sie als junges Mädchen gesessen hatte. Sie kannte die Geschichte jeder einzelnen Kerbe in dem dunklen Eichenholz. Und sie erinnerte sich an den Duft des Pinienöls, mit dem ihre Mutter das Holz behandelt hatte.
Alles hier war wie eine Reise in die Vergangenheit. Eine Vergangenheit, vor der sie mehr als neun Jahre davongelaufen war, weil sie Angst vor dem Schmerz gehabt hatte, der untrennbar mit ihren Erinnerungen verknüpft war. Doch vielleicht stimmte es, was die Leute behaupteten, und die Zeit heilte tatsächlich alle Wunden. Jedenfalls war es nicht so schlimm, wieder in Estellencs zu sein, wie sie befürchtet hatte. Selbst der Gedanke an Diego löste nur noch ein dumpfes Unbehagen in ihr aus, ganz anders als die abgrundtiefe Verzweiflung, die sie kurz nach seinem Tod empfunden hatte. Heute überwog zumeist der Zorn, wenn sie daran dachte, wie schrecklich sinnlos alles gewesen war.
Dabei hatten Diego und sie nur in Frieden leben wollen. Doch für seine Eltern war der
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