Romana Extra Band 1
ungeduldig. Was für ein bezaubernder Mensch.
„Es tut mir leid“, erwiderte sie sarkastisch, „aber nach einem Unfall sollte man sich besser erst mal nicht rühren.“ Sie hatte mal nach einem Erste-Hilfe-Kurs einen Bericht darüber für die Frauenseite geschrieben und war sich in dieser Hinsicht ganz sicher. „Wegen einer möglicherweise schweren Verletzung“, fügte sie hinzu.
„Was schlagen Sie also vor? Sollen wir hier liegen bleiben, bis zufällig ein Sanitäter vorbeikommt?“
„Ich habe ein Handy in der Tasche“, sagte sie. Diese war ihr allerdings auf den Rücken gerutscht, sodass sie es nicht hervorholen konnte. Was wohl besser so war, sonst wäre sie in Versuchung gekommen, es ihm an den Kopf zu werfen. Was hatte er sich eigentlich dabei gedacht, so einfach vor ihr Fahrrad zu laufen? „Wenn Sie drankommen, könnten Sie den Notruf wählen.“
„Sind Sie denn verletzt?“ Hörte sie da so etwas wie Anteilnahme heraus? „Ich rufe nämlich nicht dort an, wenn nur Ihr Stolz eine Delle hat.“
„Ich könnte eine Gehirnerschütterung haben“, gab sie zu bedenken.
„Soso, eine Gehirnerschütterung. Wenn Sie tatsächlich eine haben, dann ist es Ihre eigene Schuld. Der Fahrradhelm sollte auf Ihrem Kopf und nicht im Korb sein.“
Damit hatte er natürlich recht, aber der Vorsitzende des Planungskomitees war altmodisch. Jede Journalistin, die eine Story ergattern wollte, kam am besten gut frisiert und elegant gekleidet zum Interview. Also hatte sie ihre Haare für den alten Frauenhasser hochgesteckt und ihr Werk nicht durch den Fahrradhelm zerstören wollen.
Den Bus hatte sie leider verpasst …
„Wie viele Finger halte ich hoch?“, fragte der schlecht gelaunte Typ.
„Oh …“ Sie blinzelte, als eine schmutzige Hand vor ihren Augen auftauchte. Die, die nicht auf ihrem Hintern lag. Sie fand es klüger, sich auf diese zu konzentrieren, und stellte fest, dass sie einen wohlgeformten Daumen und lange Finger hatte … „Drei?“
„Stimmt beinah.“
„Nur beinah? Soll ich es noch einmal versuchen?“
„Nicht, wenn Sie gar nicht bis drei zählen können.“
„Im Moment weiß ich nicht einmal meinen Namen so genau.“
„Kommt Ihnen Claire Thackeray irgendwie bekannt vor?“
Abrupt hob sie ihr Gesicht aus den Glockenblumen und machte den Fehler, ihn anzusehen.
Vergiss die Gehirnerschütterung.
Sie befand sich vielmehr in der Gefahr, einen Herzstillstand zu bekommen. Trockener Mund. Atemlosigkeit.
Der Typ war kein jähzorniger alter Kerl mit der fixen Idee, die rechtmäßige Benutzung von Fußwegen zu verteidigen. Reizbar mochte er sein, aber ein alter Knacker war er nun ganz und gar nicht.
Schon als Jugendlicher hatte Hal North ein ansehnliches Gesicht gehabt. Er war ein hagerer, ziemlich wilder Junge gewesen, und sie hatte sich damals von ihm sowohl angezogen als auch abgestoßen gefühlt. Als Kind hatte sie sich danach gesehnt, von ihm beachtet zu werden, und sich als Teenager Dinge mit ihm vorgestellt, von denen ihre Mutter Albträume bekommen hätte, wenn sie auch nur geahnt hätte, dass ihr behütetes Mädchen zu solchen Gefühlen fähig war.
Dabei hatte ihre Mutter keinen Anlass gehabt, sich wegen Hal North Sorgen zu machen. Claire war zu jung gewesen, um von ihm überhaupt wahrgenommen zu werden. Es hatte genügend Mädchen in seinem Alter gegeben, die sich von ihm angezogen gefühlt hatten.
Sein Desinteresse konnte aber auch an ihr gelegen haben. Sie war eine Streberin gewesen, die nicht zu den coolen Mädchen in der Schule gehörte. Während die anderen ihre Weiblichkeit ausspielten, beschäftigte sich Claire lieber mit der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts.
Hal war härter geworden, seitdem Sir Robert Cranbrook ihn wegen eines unerhörten Vorfalls des Anwesens verwiesen hatte. Sie hatte nie herausgefunden, worum es dabei gegangen war. Ihre Mum hatte mit ihrem Dad leise darüber gesprochen, doch schnell das Thema gewechselt, wenn Claire in Hörweite kam. Und mit den Mädchen aus dem Dorf hatte Claire nie ein so gutes Verhältnis, dass diese ihr etwas anvertraut hätten.
So vertraute sie ihrem Tagebuch seitenweise ihre Fantasien über das an, was wohl mit ihm passiert war, und träumte von dem Tag, an dem er zurückkommen und sie erwachsen sein würde. Dann wäre sie nicht mehr das hässliche Entlein, sondern ein wunderschöner Schwan. So wie im Märchen …
Mit den Jahren nahmen die Schularbeiten zu, sodass sie die Eintragungen in ihr Tagebuch vernachlässigte, und
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