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Romeo für immer, Band 02

Romeo für immer, Band 02

Titel: Romeo für immer, Band 02 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Jay
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mich etwas. Ich greife nach meinem Tagebuch, in dem ich die Träume niederschreibe und skizziere, an die ich mich am nächsten Tag noch erinnern möchte. Ich blättere von der hastig hingekritzelten Zeichnung unserer Schule, die vor einem bedrohlich wirkenden Sternenhimmel in Schutt und Asche fällt, zur nächsten leeren Seite.
    Geist, Dämon, eine Art Besessenheit, schreibe ich. Wellen in der Luft … unsichtbare Krallen, die Löcher in die Welt reißen, um einen Menschen zu finden, der den verzweifelten Stimmen und ihren gellenden Schreien zuhört.
    Ich stecke den Stift wieder ins Tagebuch, klappe es zu und lege es zurück auf den Nachttisch. Dann kuschle ich mich in meine weiche Bettdecke. Ich habe den Stimmen noch nie zugehört. Sie überwältigen mich immer so sehr, dass ich gar nicht erst auf die Idee komme, sie verstehen zu wollen. Jedenfalls habe ich mich noch nie darum bemüht. Aber wenn es wirklich Geister sind, möchten sie vielleicht, dass ich ihnen zuhöre. In Gespenstergeschichten brauchen die Geister doch immer Lebende, die für sie vermitteln und nach Gerechtigkeit streben, damit ihre Seelen endlich Frieden finden.
    Wer so verzweifelt schreit, ist jenseits allen Friedens.
    Aber ich bin nicht jenseits allen Friedens. Noch nicht. Ich bin in Sicherheit, meine Augen sind schwer, und meine Muskeln schmerzen von den heutigen Anstrengungen. Nicht einmal die Gewissheit, dass jemand in meinem Zimmer war, kann mich noch wach halten. Ich schlafe ein und träume von dem Jungen in meinem Bild, dem Jungen, der auf einem einsamen Hügel vor einem blutroten Sonnenuntergang steht.
    Der stürmische Wind weht dem Jungen die braunen Locken ins Gesicht. Aber nicht die Haare, die ihm in die dunklen Augen peitschen, sind der Grund für die Tränen, die ihm übers Gesicht strömen. Das weiß ich. Er ist unglücklich, so traurig, wie ein Mensch nur sein kann. Seine Traurigkeit ist so tief und unendlich wie meine, als ich nicht wusste, wie ich den Tag überstehen sollte.
    Er ist schön. Schön wie ein gefallener Engel. Als er mich ansieht, stockt mir der Atem. Sein Schmerz und seine Schönheit schnüren mir die Luft ab.
    Ich vergebe dir, würde ich gern zu ihm sagen, obwohl ich nicht weiß, was ich ihm zu vergeben hätte. Bevor ich den Jungen ansprechen kann, erscheint hinter ihm ein Mann in einer braunen Kutte. Dann spaltet sich die Erde.
    Wie ein riesiger, hungriger Mund klafft die Erdspalte zwischen uns auf. Der Mann versetzt dem Jungen einen Stoß, und er fällt in die Tiefe. Ich schreie entsetzt auf, doch mein Schrei geht unter. Er wird verschluckt vom Tosen des Windes und dem ausgehungerten Grollen der Erde, die sich in Wellen wieder über dem Jungen schließt. Ich falle zu Boden und kralle meine Finger ins Gras, aber es ist zu spät. Er ist weg. Wie ein Messer sticht mir diese Erkenntnis ins Herz.
    »Ich vergebe dir«, sagt der Mann in der braunen Kutte zu mir. Das Echo meines eigenen Gedankens veranlasst mich, ihm in die Augen zu sehen. Sie sind blassblau, hell, beinahe wässrig, doch das helle Blau macht seinen Blick nicht weniger beängstigend. Er tötet nicht zum ersten Mal, auch nicht zum zweiten Mal, er hat schon unzählige Male getötet.
    »Komm mit mir!« Er will nach mir greifen, doch ich schrecke zurück. Seine Hand ist viel zu sauber. Sie sollte dreckverkrustet und blutig sein, gebrandmarkt von seinen Taten.
    Meine Gedanken halten diesen Traum fest und dringen tiefer in ihn hinein. Ich beobachte mit entsetzter Genugtuung, wie dem Mann das Fleisch von den Fingern fällt. Ich kann Muskeln und Knochen erkennen. Ich sehe all die verborgenen Dinge, die ich aus meinem Anatomiebuch kenne und immer so fasziniert angestarrt habe, weil ich alles über den menschlichen Körper wissen muss, wenn ich ihn male. Seine Hand ist nur noch rohes Fleisch, das den Boden mit seinem Blut tränkt.
    Aber der Mann in der Kutte scheint keinen Schmerz zu spüren.
    »Und auch du wirst keinen Schmerz verspüren, Liebes«, verkündet er. »Friede wird in dir sein, wenn du dich in meine Obhut begibst.«
    Erneut greift er nach mir, doch diesmal ist seine Hand so groß wie die eines Riesen. Er streckt seine Finger nach mir aus, sie werden immer länger, bis sie sich schließlich über mir krümmen wie die Dachsparren eines Hauses, das aus Albträumen errichtet wurde. Sein Blut regnet auf mein Gesicht und fließt mir in den Mund. Ich falle schreiend zu Boden. Aber ich schreie nicht vor Angst und Entsetzen, sondern weil sein Blut so wunderbar

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