Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition)
ein bisschen zu verhöhnen – und dann werde ich zur Tat schreiten.»
«Kann ich irgendwie helfen?», fragte Bennosuke. «Es geht nicht an, dass ich hier sterbe.»
«Nein, das kann nur ich allein tun. Und es ist nur recht und billig so. Anschließend werde ich dich aber nicht daran hindern, auch zu fliehen. Niemand hat es verdient, gekreuzigt zu werden … jedenfalls nicht, weil er ein Pferd geklaut hat.»
«Danke.»
«Und jetzt müssen wir deine Fesseln wieder anlegen. Wenn die Wärter sehen, dass du dich befreit hast, schöpfen sie Verdacht. Ich binde sie ganz lose. Einverstanden?»
«Ja.»
«Gut.» Der Alte seufzte und sagte dann, während er dem Jungen das Seil wieder um den Oberkörper schlang, wie im Selbstgespräch: «Das Leben ist ein einziges Täuschungsmanöver, Junge. Lass nie jemanden wissen, wie es wirklich um dich steht. Dann hast du immer das Überraschungsmoment auf deiner Seite.»
Als er fertig war, schlurfte Shuntaro zu den anderen Männern zurück, hockte sich zu ihnen und schloss das Auge. Bennosuke sah zu, wie er einschlief, wobei die leere Augenhöhle halb geöffnet blieb. Die Laternen flackerten vor sich hin, und draußen hallten weiter Wehklagen durch die Nacht.
Im Morgengrauen stellte Bennosuke fest, dass die schreckliche Angst von ihm gewichen war. Er war noch nicht in Sicherheit, natürlich nicht, aber er hatte immerhin eine Chance. Das war weit mehr, als er am Vortag gehabt hatte, und allein die Hoffnung, über eine Fluchtmöglichkeit zu verfügen – ja, mehr noch: sein Schicksal beeinflussen zu können –, wirkte beruhigend.
Als der Morgen voranschritt, hockten Shuntaro und seine Männer immer noch beieinander. Einige waren schon wach, andere schliefen noch. Sie nahmen Bennosuke nicht weiter zur Kenntnis, als er sich aufrichtete. Vielleicht hatte der alte Mann ihnen auch nicht verraten, was er vorhatte. Sie warteten, und Staubflocken tanzten um sie her durchs Licht. Die Schreie waren verklungen, das bemerkte Bennosuke nun, und stattdessen war Vogelgesang zu hören. Es war nicht etwa das Geschrei von Aasvögeln, sondern das Gezwitscher hübscher Singvögel, die nicht begreifen konnten, was Menschen einander ganz in der Nähe antaten.
Doch Aasvögel waren auch nicht nötig, wenn Samurai da waren, denn die kamen stets wie die Krähen: Ein ganzer Schwarm von ihnen marschierte gerade schnellen Schritts draußen vor dem Kerkerfenster vorbei. Die Tür wurde aufgestoßen, und sie stolzierten in das Verlies hinab. Ein halbes Dutzend Männer durchsuchte den Raum nach Gefahren, stellte sicher, dass die Käfigtür abgeschlossen war und die Gefangenen noch vollzählig waren. Einer bemerkte Bennosukes Schwerter. Er stupste sie mit dem Zeh an und warf dem Jungen, der abseits der Banditen saß, einen angewiderten Blick zu.
«Der höchst ehrenwerte Marschall Fushimi!», bellte einer und trat dann mit seinen Männern beiseite.
Die Samurai oben am Treppenabsatz machten Platz, damit der Marschall hinabsteigen konnte, und seine Reitstiefel knallten auf der Treppe. Er war ein zäh aussehender Mann, hielt sich ein Tuch vor den Mund, und aus seinen Augen sprach Abscheu und Wut. Sich hier in der Enklave der Burakumin aufzuhalten widerte ihn sichtlich an, aber er würde es erdulden.
Sein Gesichtsausdruck änderte sich nicht, als er vor den Käfig trat und die Banditen musterte. Er erinnerte Bennosuke an den Blick, mit dem ihn in Miyamoto immer die Bauern angesehen hatten. Als der Marschall jedoch Shuntaro erblickte, heiterte sich seine Miene auf.
«Ah», sagte er hinter seinem Tuch hervor. «Das muss der Yamawaro aus den Roten Bergen sein.»
«Jawohl, Herr Fushimi.» Shuntaro verneigte sich knapp. Ein Yamawaro war ein mythischer einäugiger Unhold, ein schmutziges, in Lumpen gekleidetes Wesen, das durch und durch böse war. Die Männer um Shuntaro machten finstere Gesichter.
«Du hast Manieren?», fragte Fushimi.
«Jawohl, Herr, das habe ich», erwiderte Shuntaro.
«Dann komm her und knie vor mir, während ich das Urteil über dich spreche.» Der Marschall zeigte vor sich auf den Boden. Shuntaro gehorchte wortlos. Seine Kameraden traten beiseite und ließen ihn durch, und dann kniete er in formeller Weise nieder und hielt den Blick zu Boden gesenkt.
«Du bist ein menschliches Krebsgeschwür», sagte Fushimi nach einigem Schweigen. «Ein lästiges Übel, von dem wir nun endlich genesen sind. Raub, Mord, Brandstiftung … Verheerende Schäden hast du angerichtet und Chaos verursacht. Du bist
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