Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition)
dreißig Mann stürzten sich in loser Pfeilformation hinein. Der Aufprall, als sie auf die dortige Leibermasse trafen, schlug Mann und Ross die Luft aus der Lunge, ein gemeinsames schmerzliches Aufkeuchen. Kumagais Pferd bäumte sich auf, stieg in höchster Panik über ein anderes Tier und stieß den Reiter dabei hinab, und wieder ritten sie über einen am Boden liegenden Mann hinweg.
Hier in der Mitte wurde nicht galoppiert, hier bewegte sich kaum etwas. Die Männer drängten sich voran und zwischen anderen hindurch, dem Strom der Leiber auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. In diesem Gedränge gefangen, sah man so viele reiterlose Pferde wie Pferde mit Reitern, und die verbliebenen Samurai wüteten wie rasend, rangen miteinander und schlugen sich. So stellte Bennosuke sich die Hölle vor: Leiber pressten sich an Leiber, und zwischen ihnen herrschten einzig und allein animalische Angst und menschlicher Hass.
«Da!», brüllte Kumagai, und seine Stimme überschlug sich vor siegreichem Gelächter. Er zeigte auf etwas. «Der Ball!»
Ein junger Samurai hielt den dunklen Holzball vor die Brust gepresst, während andere Männer danach griffen. Sein Pferd bewegte sich nicht von der Stelle, war zwischen anderen Pferden eingekeilt. Hinter dem Samurai sah Bennosuke etwas Burgunderrotes nahen. Die Nakata witterten nun ebenfalls eine Chance.
Quälend langsam, um jede Handbreit ringend, wendeten die Ukita-Männer ihre Rösser und begannen, nach dem Ball zu streben. Doch ihr gemeinsamer Wille spielte keine Rolle; sie waren Teil einer dicht gedrängten Masse, in der alle nur eines wollten und nach einem strebten. Sie verfingen sich ineinander, ihre Pferde wurden hin und her geworfen und drehten sich wie treibende Blätter auf einem Fluss, und dann zwängte sich plötzlich eine andere Gruppe von Männern zwischen ihnen hindurch.
Jemand packte Bennosuke von hinten, und Finger krallten sich um seine Schulter: ein stürzender Samurai – jedoch kein Ukita-Mann –, der überall nach Halt suchte, um sich noch zu retten. Er zerrte an Bennosuke, griff nach seinem Helm, dann nach seinem Gesicht, seinen Augen, seinem Mund. Der Mann war schwer, Bennosuke verlor zusehends den Halt, und dann rutschten die beiden gemeinsam hinab.
Der Junge hing schon fast quer auf dem Rücken seines Pferds, als er endlich anfing, sich zu wehren. Er schlug nach dem Mann, mit dem Ellenbogen und der Faust, immer und immer wieder. Der Mann konnte nicht sehen, woher die Schläge kamen, er schimpfte und fluchte verwirrt und vor Schmerz, hielt sich aber weiter fest. Bennosuke biss in die Finger, mit denen der andere sich in seinen Mund gehakt hatte, er schmeckte Blut, und verzweifelt versuchte er, sich wieder aufzurichten.
Ein Krachen ertönte, und einen Moment lang stellte sich Bennosuke vor, seine Stute habe sich unter der Last die Beine gebrochen. Dann schnellte er plötzlich befreit empor und fühlte sich leichter. Er sah nach unten, und zwischen den Hufen seines Pferds entdeckte er die leuchtende Farbe seines Banners, an das sich eine Hand klammerte. Der Mann hatte sich an allem festgehalten, was sich ihm bot, und die Bambusstange war unter seinem Gewicht geborsten.
Als er sich im Sattel wieder zurechtgerückt hatte, ragte der gesplitterte Rest seiner Standarte wie ein primitiver Speer hinter ihm auf. Er hatte nun vollends die Orientierung verloren. Irgendwo lachte Kumagai, Bennosuke aber konnte ihn nicht mehr sehen. Für einen schrecklichen Moment waren auch die Banner der Nakata verschwunden, doch sie waren so hoch und bunt, dass er sie schließlich wieder erblickte – und darunter Hayato Nakata. Der junge Fürst war keine dreißig Schritt entfernt. Der Dolch an Bennosukes Handgelenk pochte.
Da er wusste, dass sein Vater zusah und die Mächte der Welt, die an Rechtschaffenheit glaubten, auf seiner Seite waren, ließ er Kumagai und seine Männer hinter sich zurück. Er brauchte ihren Schutz nicht mehr. Er versuchte zu wenden, um sich seinem Ziel zu nähern, hing aber in dem sich windenden Gedränge fest. Es glich einer Folter, Hayato so aus der Nähe zu sehen, und unwillkürlich schrie er vor Wut darüber auf, dass er sich nicht fortbewegen konnte. Er grub die Finger in die Mähnen der Pferde neben sich, als könnte er sich und sein Ross so nach vorne ziehen und die Lücke zu Hayato überbrücken.
Dann, ohne Vorwarnung, begünstigte ihn das Chaos der Menge plötzlich, und eine Woge aus Leibern trug ihn voran. Reiter schienen ihm Platz zu machen, und
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