Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition)
blickte gekränkt und wütend und verletzlich. Wie durchschnitten schien die Zeit mit einem Mal, als stünde sie still. Ihre Gedanken wanderten zurück zu dem Bambushain. Sein Grün war ewig, sie hätten für immer zusammen dort bleiben sollen. Was aber hatte sie in den vergangenen Jahren aus diesem Leben gemacht? Was hatte er daraus gemacht?
Trauer zerbrach den Panzer ihrer Scharade, Tränen liefen ihr die Wangen hinab, und ein Schluchzer ließ ihren ganzen Körper erbeben.
Ach, es war doch sinnlos, das alles. Scham packte sie, sie versuchte die Tränen zurückzuhalten und verzog ihr Gesicht noch einmal zu einem bitteren Grinsen – ein Gesichtsausdruck, geeignet, diese erbarmungslose Welt damit zu verlassen. Sie war ja schließlich eine Samurai.
«Er ist jetzt fünf, also würde ich sagen, dass es seit ungefähr sechs Jah…», begann sie, und das war Yoshikos Ende.
* * *
D ie Rüstung lag immer noch vor Munisai über den Boden verstreut. Die Laterne in seiner Hand war schon fast heruntergebrannt. Er bemerkte es kaum.
Ihre Tränen. Der Schluchzer. Der Moment, bevor sie das Gesicht verzogen und die Worte gesprochen hatte, die ihn brachen … Das hatte ihn geprägt, und doch verhinderte sein Stolz als Samurai, dass er jemals jemandem davon erzählen würde. Nicht einmal Yoshikos Sohn. Nicht einmal, als er, Munisai, hatte sterben wollen.
Er hatte Jahre gebraucht, sich dem überhaupt zu stellen. Zunächst war er wie besessen von dem letzten Lächeln gewesen, das Yoshiko sich ins Gesicht gezwungen hatte. Allabendlich vor dem Einschlafen hatte er daran gedacht, hatte es auf der Schneide jedes Schwerts gesehen, das auf ihn zugesaust war. Dieses Lächeln erfüllte ihn mit Wut und Hass, doch damit konnte er umgehen.
Dabei hatte er immer gewusst, dass er sich auf etwas Falsches, Vorgeschobenes konzentrierte. In gewisser Weise bewunderte er Yoshiko. Der Samurai in ihm schätzte die Entschlossenheit und Hingabe, mit der sie gerechte Vergeltung geübt hatte. Doch er konnte die Selbsttäuschung nicht ewig aufrechterhalten. Im Laufe der folgenden Jahre, die er auf Wanderschaft und dann in den Diensten Fürst Shinmens verbrachte, gestattete er sich allmählich, sich die Existenz jener Tränen einzugestehen, sich einzugestehen, was er getan hatte.
Er erinnerte sich an das Rascheln der Decken und das kaum merkliche Wackeln des Betts, als Yoshiko in jener Nacht, nachdem er sie das erste Mal betrogen hatte, weinend hinter ihm gelegen hatte. Er dachte an die zarte, unschuldige, rare Freude, die er ganz ungeniert niedergetrampelt und besudelt hatte. Das zehrte unablässig an seiner Seele, und seine Wut verwandelte sich in Scham. Ihm wurde klar, dass er sich das, was Yoshiko ihm angetan hatte, mit seiner Arroganz selbst eingehandelt hatte – und dann hatte er sie dafür auch noch ermordet.
Am heutigen Tag, acht Jahre später, hatte er geglaubt, das alles wiedergutmachen zu können. Die Idee war ihm ganz plötzlich gekommen, als er bemerkt hatte, dass Bennosuke ihm zum Tempel folgte. Was könnte vollkommener sein, als von der Hand ihres Sohns getötet zu werden? Die Geschichte erzählen, in grellen Farben und mit allen Details, damit der Junge durchdrehte und ihn angriff, dann keinen Widerstand leisten. Eine schnelle, saubere Sache, und der Gerechtigkeit wäre Genüge getan.
Aber der Junge …
* * *
A
ls er mit dem Morden fertig war, sah Munisai noch eine Weile zu, wie der Dorfteil niederbrannte, und kehrte dann zu seinem Gutshaus zurück. Er ging aber nicht hinein, sondern setzte sich an die Außenwand und sah ins Tal hinab. Schreie des Entsetzens, Schmerzens- und Trauerschreie hallten herüber, während die Morgendämmerung anbrach, doch niemand näherte sich seinem Haus. Allein saß Munisai in seinem besudelten Kimono da, bis er irgendwann den Blick hob und Dorinbo vor sich stehen sah. Mittlerweile war es lichter Tag.
Der Mönch sagte nichts. Auf dem Weg zum Haus musste er an den Verheerungen vorbeigekommen sein. Er sah Munisai an, als erwartete er irgendeine Entschuldigung oder Erklärung von ihm, aber in Munisai herrschte nur noch Leere. Er konnte einzig und allein noch seinen Blick erwidern.
Dieses Schweigen weckte Dorinbos Wut. Der Mönch schlug ihn mit Fäusten und trat ihn, und Munisai wehrte sich nicht. Zum ersten Mal erlebte er, dass sein Bruder die Beherrschung verlor, aber er verstand es gut. Er nahm die Schläge und Tritte hin, und das machte Dorinbo nur noch wütender. Der Mönch packte ihn beim Kragen,
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